© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Unklare Rollenverteilung
Ukraine-Konflikt spitzt sich zu: Wer bedroht hier eigentlich wen?
Thorsten Hinz

So klirrend kalt wie heute standen die Mauern zwischen Rußland und dem Westen nicht mehr, seit 1986 der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen Haus Europa“ sprach und allseits zur materiellen und verbalen Abrüstung aufrief. Nur scheinbar sind die Rollen im Ukraine-Konflikt klar verteilt: Hier die freiheitsliebende, demokratische Ukraine, die auf ihr souveränes Recht pocht, der Nato beizutreten und die dabei Unterstützung aus dem Westen erhält, der so seine universellen Werte und Ideale hochhält. Dort das despotische Rußland, das von Einkreisung und Bedrohung faselt, um seine imperialen Reflexe zu rechtfertigen und das zum Überfall auf den Nachbarn rüstet.

Die USA und Großbritannien liefern Waffen an die Ukraine. In Deutschland fordern laute Stimmen, sich ebenfalls hinter die amerikanische Führungsmacht einzureihen und gemeinsam Härte zu zeigen. Ein Appell von rund 70 mehr oder weniger sachkundigen Osteuropa-Experten in der Zeit ruft dazu auf, Deutschlands „ostpolitischen Sonderweg“ zu beenden und „effektivere Taten“ gegen Moskau zu ergreifen. Schon der „Angriff Putins auf die Ukraine im Jahr 2014“ – gemeint ist die Besetzung der Krim – hänge unmittelbar mit „der vorausgehenden 20jährigen Passivität deutscher Politik gegenüber russischem Neoimperialismus“ zusammen. In solchen Diskursen steigert ein hypermoralisches Politikverständnis sich zum Aberwitz. Wenn der russische Außenminister Sergei Lawrow vor laufender Kamera gegenüber der deutschen Amtsnovizin vom Wunsch nach besseren „russisch-amerikanischen Beziehungen“ – statt russisch-deutschen – spricht, dann steckt in dem sprachlichen Lapsus auch eine Klarstellung machtpolitischer Gegebenheiten.

Das offizielle Berlin bekundet Solidarität mit Kiew, um sich in Realpolitik zu üben. Die durch historische Katastrophen bestätigte Mahnung Bismarcks, niemals den Draht nach Rußland zu kappen, wirkt nach. Zudem stehen die Sozialdemokraten weiter unter dem Eindruck der Ostpolitik Willy Brandts. Auch CSU-Chef Markus Söder äußert sich demonstrativ staatsmännisch: Rußland sei eine Großmacht und gewiß ein schwieriger Partner, aber kein Feind. Seinen Ausschluß aus dem Finanzsystem Swift und die Aufkündigung der Ostseepipeline Nord Stream 2 lehnt er ab. Sogar die Auftritte Annalena Baerbocks lassen den grünen Gesinnungsdogmatismus vermissen.

Der SPD-Außenpolitiker und Bismarckianer Egon Bahr sagte vor Schülern: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Die im Westen skandalisierte Aussage Putins, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, ist aus russischer Sicht eine nüchterne Bestandsaufnahme: Den eisfreien Zugang zur Ostsee hat Rußland weitgehend verloren. Die Sezession der Ukraine hat die russische Position am Schwarzen Meer entscheidend geschwächt; Odessa, das Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und darüber hinaus, ging verloren. Die Besetzung der Krim war somit eine weltpolitische Notbremsung. Unberührt davon bleibt Zbigniew Brzezinskis Feststellung gültig, daß Rußland „geographisch gesehen keinen leichten Zugang zur Außenwelt“ mehr besitze und ihm an seiner westlichen, südlichen und östlichen Flanke kräftezehrende Konflikte mit den angrenzenden islamischen Republiken drohten. „Nur die unbewohnbaren und unzugänglichen nördlichen Permafrostgebiete scheinen geopolitisch noch sicher.“

Damit ist die strategische Strangulation der einstigen Supermacht benannt. Mit dem Nato-Beitritt der Ukraine würde die Schlinge sich noch enger zuziehen. Es ist demagogisch, wenn US-Außenminister Antony Blinken bei seinem Berlin-Besuch fragt: „Welche Truppen umzingeln hier wen? Welches Land hat das Territorium eines anderen Landes mit Gewalt für sich beansprucht?“ Die USA haben seit 1991 Milliarden Dollar investiert, um die Ukraine intellektuell und ökonomisch auf ihre Seite zu ziehen. Auch bei den Maidan-Erhebungen hatten westliche Kräfte und Financiers ihre Hände im Spiel. Der Nato-Beitritt Kiews würde die geostrategische Kapitulation Moskaus militärisch besiegeln. 

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace hat die Einkreisung Rußlands als Halluzination abgetan. Schließlich grenzten nur fünf der 30 Verbündeten an Rußland und nur ein Sechzehntel seiner Grenzen an die Nato. Dieses Verhältnis würde sich mit der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine allerdings schlagartig ändern. Ungewollt liefert Wallace auf der Webseite seines Ministeriums ein Gegenargument, indem er an die alte russisch-britische Waffenbrüderschaft erinnert, die Napoleon und Hitler niedergerungen habe. Diese Siege verdankten sich wesentlich der strategischen Tiefe Rußlands, die der Grande Armée und der Wehrmacht überlange, nicht zu bewältigende Nachschublinien bescherte. Ein Vorrücken der Nato an die ukrainische Ostgrenze würde die Tiefe nochmals dramatisch verkürzen. 

Für die angelsächsischen Vordenker der Geopolitik, Halford Mackinder und Nicholas J. Spykman, bestand die Aufgabe einer echten Weltmacht darin, sich die Herrschaft über die Eurasische Landmasse zu sichern, die zusammen mit Afrika die „Weltinsel“ bilde. „Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel; wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“ Das „Herzland“ umfaßt den europäischen Teil Rußlands und Westsibirien. Einen Risikofaktor sah Mackinder in dem seinerzeit technisch und organisatorisch hochbefähigten Deutschland, weil seine Verbindung mit dem russischen Herzland imstande war, die angelsächsische Vorherrschaft in Frage zu stellen.

Aktuell gilt Europa den USA als „brauchbares Sprungbrett“ (Brzezinski) für ihre geopolitischen Ambitionen. Als deren berufener Sprecher fühlt sich der ukrainische Botschafter in Berlin, der sich einen unverschämten Ton gegen sein Empfängerland erlaubt. Auch zwischen Nato-Partnern klirren in der Kälte die Fahnen.