© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Die Schlinge zieht sich zu
Mißbrauchsfälle in der katholischen Kirche: Der frühere Papst Benedikt XVI. im Mittelpunkt der Angriffe
Gernot Facius

Der Kontrast könnte stärker nicht ausfallen. 2005 jubelte man in Deutschland „Wir sind Papst“, heute sitzt der damals Gewählte auf der medialen Anklagebank: Das ehemalige Kirchenoberhaupt Benedikt XVI., der bald 95jährige Joseph Ratzinger, wird in einem Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) der Vertuschung von vier Mißbrauchsfällen beschuldigt – sie betreffen seine Zeit als Erzbischof von München und Freising (1977–1981). Er sei „überwiegend wahrscheinlich“ an der Entscheidung beteiligt gewesen, einen rechtskräftig als Sexualstraftäter verurteilten Priester aus der Ruhr-Diözese Essen in seinen Verantwortungsbereich zu übernehmen und wieder in der Seelsorge einzusetzen. 

Der emeritierte Papst gab in einer 82seitigen Stellungnahme zunächst an, er habe an der entscheidenden Beratung gar nicht teilgenommen. Im Protokoll wird seine Anwesenheit allerdings vermerkt, weshalb die Anwälte seine Aussage für wenig glaubwürdig hielten. Benedikt mußte sich gegen den Vorwurf der Lüge wehren. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller warf ihm vor, mit seinen Dementis die letzte Möglichkeit verpaßt zu haben, vor seinem Tod „wirklich reinen Tisch zu machen“. Er habe „die Vorgeschichte“ des Pfarrers gekannt, er hat mitent­schieden, daß der ohne Gefahrenauflagen in der Seelsorge eingesetzt wird, und er war in der entscheidenden Sitzung der Ordinariatskonferenz anwesend, wie die Gutachter nachgewiesen haben. 

Zu Beginn dieser Woche räumte der emeritierte Papst dann ein, bezüglich der Teilnahme an der fraglichen Sitzung eine falsche Aussage gemacht zu haben. Der Fehler sei aber „nicht aus böser Absicht heraus geschehen“, sondern „Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme“. Dies tue ihm „sehr leid“, und er bitte, dies zu entschuldigen.

Ein Bischof nach dem anderen wagt inzwischen offen Kritik an dem einsamen Mann in Rom. „Vertuscht, verdeckt wurde lange genug“, sagt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing. Jetzt sei die Zeit der Wahrheit. Was in der Berichterstattung der Medien übersehen worden ist: Ein Gutachten ist kein Richterspruch. Die Anwälte haben selbst Wert darauf gelegt, daß ihre Schlußfolgerungen in der „Bilanz des Schreckens“ nach „Aktenlage“ und der Befragung von Zeugen zustande gekommen sind. Sie verwenden bewußt das Wort „wahrscheinlich“. Und es liegt eine „gewisse Ungerechtigkeit“ darin, so die Welt, daß die beschriebenen Enthüllungen über Vertuschung und Verharmlosung nicht gegen den Willen der Kirche ans Licht kamen, sondern auf ihren Wunsch: „Die Bischöfe sind es, die diese Untersuchungen in Auftrag geben und den Zugang zu den Akten gewähren.“ Aber am Ende bleibe immer nur hängen: Die Kirche habe gemauert. Das schlägt sich auch in den Ergebnissen von Umfragen nieder. Das Institut Forsa ermittelte, daß nur noch zwölf Prozent der Befragten der katholischen Kirche „großes Vertrauen“ entgegenbringen, 2017 waren es noch 28 Prozent.

Animositäten zwischen den Lagern in der Kirche befeuert

Neben Joseph Ratzinger, dem späteren Papst aus Deutschland, haben sich aus Sicht der juristischen Gutachter auch sämtliche anderen Erzbischöfe von München und Freising schuldig gemacht: „Bis zum Inkrafttreten der überarbeiteten Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz wurden die der Erzdiözese bekanntgewordenen Fälle allenfalls in gravierenden Einzelfällen bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Oftmals waren die Taten dann dort bereits bekannt.“ In ihrem Gutachten haben die Münchner Anwälte Tatvorwürfe der Jahre 1945 bis 2019 untersucht. Bei 211 Sachverhalten sehen sie den Tatvorwurf als „erwiesen oder zumindest plausibel“ an. Mindestens 492 Betroffene seien in diesem Zeitraum ermittelt worden. In 42 Fällen will die Staatsanwaltschaft München I nun das Fehlverhalten von kirchlichen Verantwortungsträgern prüfen. 

Eine zentrale Figur in der Causa ist Kardinal Reinhard Marx. Er zeigte sich „erschüttert und beschämt“ nach Veröffentlichung des Gutachtens und bat um Entschuldigung für das Leid, „das die Kirche verursacht“. In Schutz genommen wird der emeritierte Papst von Kardinal Gerhard Ludwig Müller, dem ehemaligen römischen Glaubenspräfekten: Falls Fehler gemacht worden seien, habe Ratzinger nichts davon gewußt. Müller suchte die aktuelle Auseinandersetzung auf eine andere Ebene zu heben. Es gebe in Deutschland, aber auch darüber hinaus, Personen, die Benedikt XVI. gezielt schaden wollten: „Er ist gewissermaßen der höchste Repräsentant des Katholizismus in Deutschland, aber er vertritt eine orthodoxe Haltung.“ Im übrigen habe damals keiner genau gewußt, was eine angemessene Reaktion auf die Mißbrauchsvorwürfe gewesen wäre – weder in der Kirche noch in anderen Teilen der Gesellschaft. Man habe angenommen, eine Therapie für Täter könne das Problem lösen. Heute wisse man mehr. Papst Benedikt XVI. selbst habe daher in seiner Amtszeit (2005–2013) strengere Regeln eingeführt, und sein Nachfolger Franziskus habe diese Kehrtwende weiterverfolgt. 

Die von Kardinal Müller beschriebene Position wurde auch von der katholischen Tagespost übernommen: „Wäre die anwaltliche Gutachterstelle WSW ein normales Gericht gewesen, wäre der ‘Angeklagte’ Benedikt XVI. auf jeden Fall wegen mangelnder Beweise freigesprochen worden.“ Aber so funktioniere es nicht, wenn es um einen Kirchenmann wie Ratzinger gehe: „Der muß einfach weg, damit sein Vermächtnis und Erbe nur ja nicht stört, wenn es bis in die Spitzen des deutschen Episkopats jetzt erklärter Wille ist, eine neue, am progressiv-protestantischen Modell ausgerichtete Kirche katholischer Provenienz zu errichten.“ Ein Mann wie Ratzinger störe. „Am Donnerstag hat ihn der mediale Apparat mit Hilfe eilfertiger Theologen vernichtet.“ 

Die Vorwürfe gegen Joseph Ratzinger befeuern die Animositäten zwischen den unterschiedlichen Lagern der katholischen Kirche. Es trennt sie schon die Sicht auf die Rolle der Frau, auf das Problem der Homosexualität und auf den Zölibat. Das Benedikt-Lager schließt sich dicht an die Meinung von Kardinal Müller an, daß niemand in den vergangenen Jahrzehnten mehr gegen den Mißbrauch unternommen habe als der emeritierte Papst. Die Franziskus-Anhänger wiederum weisen darauf hin, daß in dem Gutachten aus München nicht nur die Rolle des ehemaligen Kirchenoberhauptes hinterfragt werde, sondern in zwei Fällen auch jene von Kardinal Marx. Es treffe also nicht zu, daß die Schatten nur auf Benedikt fielen. 

Und wie wird das frühere Kirchenoberhaupt heute in seiner Heimat gesehen? Für den Chefredakteur der Nachrichtenagentur KNA, Ludwig Ring-Eifel, ist er der ehemalige Papst, der vor mehr als 40 Jahren als Erzbischof unverantwortliche Milde gegenüber Mißbrauchstätern walten ließ – und sich zudem damals nicht um die Opfer kümmerte. „Was er später als Glaubenspräfekt und als Papst unternommen hat, um Hunderte Mißbrauchstäter aus dem Priesterstand zu entfernen, kann dies in den Augen seiner Kritiker nicht aufwiegen.“

Kommentar Seite 2

Fotos: Joseph Ratzinger: Das ehemalige Kirchenoberhaupt sitzt nun auf der medialen Anklagebank; Die Amtschefin der Erzdiözese München und Freising (Dritte von links) stellt im Beisein der Anwälte Martin Pusch (links) und Marion Westphal sowie Generalvikar Christoph Klingan  das Gutachten zu Fällen von sexuellem Mißbrauch in ihrem Erzbistum vor:  Die Juristen haben darin Tatvorwürfe der Jahre 1945 bis 2019 untersucht