© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Grüße aus … Rio
Unterspült und unterbrochen
Wolfgang Bendel

Wie unter Zwang mußte ich immer wieder aus dem Fenster schauen. Draußen zeigte sich ein gleichermaßen faszinierendes wie bedrohliches Schauspiel. Seit knapp zwei Tagen schüttete es fast ohne Unterbrechung. Der Regen genehmigte sich nur kurze Verschnaufpausen, um anschließend, so wie es schien, noch heftiger zu werden. Ich ging in den ersten Stock, um das Spektakel von oben betrachten zu können. 

Die Wassermassen, die herunterstürzten, der Begriff Regen beschreibt das Wetterphänomen nur unzureichend, überfluteten die Straße vor unserem Haus und ließ sie zu einem kleinen Bach anschwellen, der über die Ufer trat und den Gehsteig überschwemmte. Obwohl unser Anwesen auf einer Anhöhe  liegt, hatten die Wassermassen kaum Zeit abzufließen, um dem von oben kommenden überreichlichen Nachschub Platz zu machen. Trotzdem waren wir vor einer ernsthaften Überschwemmung sicher, aber wie mochte es unten in der Stadt und erst recht im Hinterland aussehen, wo das Wasser nicht sofort abfließen kann und sich aufstauen wird, ging es mir durch den Kopf.

„Wir können nicht kommen, wir sind eingeschlossen. Alle Straßen sind unterbrochen.“

Ich schaltete den Fernseher ein. Die Nachrichten überschlugen sich. Zahlreiche Verbindungsstraßen, darunter wichtige, waren an verschiedenen Stellen unterbrochen oder unterspült worden, Brücken überschwemmt oder beschädigt. Tiefer gelegene Ortsteile vieler Städte im Hinterland standen unter Wasser, die Häuser unbewohnbar, der Hausrat nur noch Müll. Über 20 Menschen waren ertrunken oder unter einstürzenden Häusern begraben worden, Zehntausende obdachlos, wobei viele Unterschlupf bei Verwandten und Freunden fanden. Brasilianer sind in Notsituationen überaus hilfsbereite Menschen. Trotzdem bleiben die Ereignisse für die Betroffenen eine wirtschaftliche Katastrophe, auch wenn Regierungsstellen sofortige Hilfe versprachen.

Zwei Wochen später kam es in Nachfolge des Extremwetters zu einer weiteren Katastrophe. In einem Canyon, der wegen seiner dramatischen Schönheit ein bekanntes Touristenziel ist, hatte der  Starkregen einen riesigen Felsblock gelockert. Dieser löste sich aus der Wand und fiel auf ein Motorboot voller Ausflügler. Zehn von ihnen wurden erschlagen. 

Die eingangs beschriebenen Ereignisse fanden zur Weihnachtszeit statt. Einige Verwandte waren von weither angereist, um uns zu besuchen. Wenig überraschend erreichte uns kurz vor Heiligabend ein Anruf: „Wir können nicht kommen, wir sind eingeschlossen. Alle Straßen sind unterbrochen. Wir werden wohl im Auto übernachten und dort Weihnachten feiern müssen.“ So feierten wir Christi Geburt im engsten Familienkreis. Die Verwandten kamen schließlich mit einer Verspätung von gut 30 Stunden an.