© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Wie ein verwundeter Tiger
Großbritannien: Premier Boris Johnson muß vermutlich bald ein Mißtrauensvotum überstehen / Er gibt sich kämpferisch
Julian Schneider

Das „Partygate“ nimmt kein Ende und hat Boris Johnson in die tiefste Krise seiner nun zweieinhalbjährigen Amtszeit gestürzt. Auch in der Woche, in der die Beamtin Sue Gray den Ermittlungsbericht über allerlei Partys während des ersten Corona-Lockdowns 2020 im Regierungssitz Downing Street 10 vorlegt, reißen die Vorwürfe nicht ab. Nun kam heraus, daß es im Mai 2020 eine Geburtstagsfeier für Johnson gegeben hatte. Johnsons damalige Verlobte Carrie, seine heutige Ehefrau, soll für ihn im Kabinettssaal eine Überraschungsparty mit Kuchen, M&M und Knabberzeug organisiert haben.

Oppositionsführer Keir Starmer schäumte, das Land könne sich „nicht mehr leisten, mit dieser chaotischen, führungslosen Regierung weiterzumachen“. Labour hat Blut geleckt. Erstmals seit ihrer verheerenden Wahlniederlage im Dezember 2019 liegt die Linkspartei nun laut Umfragen deutlich vor den Konservativen. Die Tories, die damals einen Erdrutschsieg feierten, den Johnson mit seiner durchschlagenden Brexit-Wahlkampagne erzielte, sind tief verunsichert. 

Der Premier erscheint wie ein verwundeter Tiger, blaß und abgezehrt wirkt er. Durchwachte Nächte am Bett seiner an Corona erkrankten neugeborenen Tochter haben ihn gezeichnet, während er am Tag die britische Politik gegenüber Rußland in der Ukraine-Krise dirigiert.

Die Tory-Partei schwankt zwischen Entsetzen, Trübsal und Revolte. Bislang haben sich aber nur wenige Abgeordnete vorgewagt und fordern öffentlich Johnsons Rücktritt wegen „Partygate“. Sein Ex-Berater Dominic Cummings, der nach seiner Entlassung Rache geschworen hat, schüttet kräftig Öl ins Feuer. Zusätzlich hat noch eine ehemalige Juniorministerin plötzlich Islamophobie-Vorwürfe gegen die Tories erhoben. Seit drei Wochen prasseln die „Partygate“-Anklagen wie dichter Hagel auf Johnson hernieder. Vor allem eine offenbar alkoholreiche Gartenfeier im Mai 2020, zu der Johnsons Privatsekretär Martin Reynolds eingeladen hatte, steht im Zentrum der Vorwürfe. Der Rest des Landes mußte damals strikten Lockdown einhalten.

Es klang wenig überzeugend, als Johnson sich zwar für den verständlichen Ärger der Bürger vielfach entschuldigte, aber beteuerte, er habe das Zusammensein im Garten der Downing Street mit „sozial distanzierten Drinks“ für eine „Arbeitsveranstaltung“ gehalten. Wenn Sue Grays Ermittlungsbericht diese Woche veröffentlicht wird, ist es wahrscheinlich, daß die Kritik auch aus den Reihen der Tories zunimmt. Schon Ende dieser Woche könnte es zu einem Mißtrauensvotum kommen, die nötige Anzahl von 54 Briefen an das 1922-Komitee der Hinterbänkler wird wohl zusammenkommen. Allerdings wirkt Johnson, der zeitweilig sehr geknickt aussah, jetzt doch wieder entschlossen, die Sache durchzufechten.

„Er ist ein Kämpfer“, heißt es immer wieder aus seinem Umfeld. Bislang hat auch kein einziges Kabinettsmitglied es gewagt, ihn öffentlich anzugreifen. Übersteht Johnson die Vertrauensabstimmung mit einer großen Mehrheit der 359 Tory-Abgeordneten, ist er zwar angeschlagen, aber kann weitermachen. Nach den bisherigen Tory-Statuten hätte er dann sogar zwölf Monate lang Schutz vor einem neuen Mißtrauensvotum. Aber bei einer hohen Anzahl von „No Confidence“-Voten, bei mehr als den 137 wie bei seiner Vorgängerin Theresa May 2018, ist es gut möglich, daß der Druck zu groß wird und er zurücktreten müßte.

Wer sind die möglichen Nachfolger? Finanzminister Rishi Sunak wird an erster Stelle genannt. Der Ex-Investmentbanker, Sohn indischer Einwanderer und mit der Tochter eines indischen Software-Milliardärs verheiratet, ist das genaue Gegenteil von Johnson: Sunak trinkt Tee und Cola, niemals Alkohol. Er studiert lieber seine Excell-Tabellen, als auf Partys zu gehen. In der Partei ist der jugendlich wirkende Minister beliebt, auch wenn wegen der demnächst in Kraft tretenden Steuererhöhungen viele Tory-Herzen bluten. Außenministerin Liz Truss ist nach den parteiinternen Rankings der Seite „Conservative Home“ ebenfalls sehr beliebt bei der Basis, aber nicht so bekannt in der Öffentlichkeit. 

Der frühere Außenminister Jeremy Hunt, der im Juli 2019 gegen Johnson unterlag, sowie die Allzweckwaffe des Kabinetts, Wohnungsminister Michael Gove, haben ebenfalls Ambitionen auf das höchste Regierungsamt. Innenministerin Priti Patel gilt als ehrgeizig. Aber alle halten sich bedeckt. Keiner will zu früh die Hand heben und dann als Königsmörder gelten.

Während deutsche Medien Johnson, den Wortführer der Brexit-Kampagne, gern als rechten Populisten bezeichnen, sehen ihn Rechtskonservative auf der Insel skeptisch. Johnson ist eher ein liberaler, moralisch flexibler Politiker. Unter dem Einfluß seiner Frau hat er sich einer grünen Agenda verschrieben. Kaum Entlastung brachte ihm das Ende fast aller Corona-Vorschriften. Vielmehr hatte der rechte Parteiflügel dies vehement eingefordert. Stattdessen kündigte die Londoner Polizeibehörde an, daß sie untersuchen wolle, welche möglichen Lockdown-Verstöße im Regierungssitz passiert sind.