© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

„Aufschwung, Macht, Zusammenhalt“
Wirtschaftspolitik: Die französische EU-Ratspräsidentschaft soll vor allem Emmanuel Macrons Wahlkampf beflügeln
Albrecht Rothacher

Normalerweise dauern EU-Ratspräsidentschaften ein halbes Jahr. Doch wird die aktuelle von Frankreich mit einem großartigen Treffen der Regierungschefs am 10. und 11. März in Paris fast schon wieder vorbei sein. Denn dann beginnt die heiße Phase des Wahlkampfs, bei dem der 44jährige Emmanuel Macron am 10. April als erster aus dem Feld der vielen Kandidaten ins Ziel gehen will, um in der Endrunde am 24. April entweder erneut wie 2017 gegen Marine Le Pen (53), Éric Zemmour (63) oder als wesentlich gefährlichere Gegnerin Valérie Pécresse (54) („zwei Drittel Merkel, ein Drittel Thatcher“) der bürgerlich-rechten Republikaner (LR) zu obsiegen.

Die EU ist zwar bei den Franzosen nicht sonderlich beliebt, und die Europapolitik spielt in ihrer Wahlentscheidung keine Rolle. Es ist aber für den französischen Staatspräsidenten wichtig, als erfolgreicher europäischer Leitwolf gesehen zu werden, zumal die Berliner Ampel dank der Führungsschwäche des neuen Bundeskanzlers Olaf Scholz zerstritten und gelähmt erscheint. Und beim drittgrößten EU-Land Italien herrscht das übliche politische Chaos in Rom. So will Macron in den nächsten Wochen unter dem Slogan „Aufschwung, Macht, Zusammenhalt“ ein auf 76 Seiten zusammengefaßtes Feuerwerk an neuen und alten französischen Initiativen in Brüssel durchbringen.

Jedes Wochenende treffen sich die EU-Fachminister in einer anderen Provinzstadt, wie vergangenes Wochenende die Energieminister im nordfranzösischen Amiens. Viel ist dabei nicht herausgekommen. So soll aber den 27 EU-Mitgliedstaaten „im Falle eines starken Anstiegs der Energiepreise und in weiterer Folge auch des Gewinns bestimmter Produzenten“ ermöglicht werden, „einen Teil der Gewinne zurückzufordern, um sie auf alle Verbraucher umzuverteilen“. Wie eine solche Sondersteuer konkret erhoben und wie der Pro-Kopf-Bonus ausgezahlt werden könnte, bleibt der Phantasie von Christian Lindner (FDP) und seinen EU-Finanzministerkollegen überlassen.

Mit dem italienischen Ministerpräsidenten und früheren EZB-Chef Mario Draghi hat Macron verabredet, die schon längst ignorierten Euro-Stabilitätsgrenzen der Staatsschuld von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) durch das Herausrechnen von Digital- und Klimainvestitionen endgültig auszuhebeln. Mit einer Staatsschuld von 2,8 Billionen Euro (115 Prozent des BIP) – die Anleihekäufe der EZB machen es möglich –, muß sich Macron nicht mit Rentenreformen unbeliebt machen. Das einwohner- und wirtschaftsstärkere Deutschland hat nach den aktuellen EU-Zahlen von Mitte 2021 „nur“ 2,4 Billionen Euro Staatsschulden (70 Prozent des BIP).

Macron kann großzügige Wahlgeschenke von je 100 Euro als „Inflationsausausgleich“ und „Energieschecks“ für Niedrigverdiener verteilen sowie dem Staatskonzern Électricité de France (EDF) aus Angst vor einem neuen Gelbwesten-Aufstand anordnen, die Strom- und Gaspreise einzufrieren. Die Verluste von schätzungsweise acht Milliarden Euro muß der französische Staat decken. Gleichzeitig werden Kohlekraftwerke wie „Émile-Huchet“ in St.-Avold unweit von Saarbrücken hochgefahren und die Emissionsvorschriften gelockert. Mit den EU-Kommissionsplänen für eine grüne „Taxonomie“ und Förderwürdigkeit von Atomenergie und Gasverstromung hat sich Paris – unterstützt von mehr als 20 Mitgliedstaaten – ohnehin schon fast kampflos durchgesetzt.

Ambitionierte Pariser Wunschliste mit Licht und Schatten

An der EU-Zollgrenze will Macron die Kommissionspläne für eine CO2-Grenzabgabe (Carbon Border Adjustment Mechanism/CBAM; JF 32/21) für energieintensive Importe einführen. Stahl, Aluminium oder Dünger, die aus dem Rest der Welt stammen, die sich nicht an die EU-Klimaregeln halten, sollen so zusätzlich belastet werden. Auf den Inflationsauftrieb innerhalb der EU und die Gegenzölle aus Washington, Peking & Co. darf man gespannt sein. Auch will Macron die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen für Unternehmen, die von Sanktionen der USA oder Chinas bedroht oder geschädigt werden, zügig umsetzen lassen.

Dazu kommen ein Aufholen der EU in Sachen digitaler Märkte und Dienstleistungen und eine wettbewerbsrechtliche Beschränkung der Macht der Konzerne des Silicon Valley (JF 51/21) bis hin zum Plan, eine EU-weite Großübung zur Abwehr von Cyberattacken durchzuführen. Einmal mehr will Frankreich nach der gemeinsamen Blamage des überstürzten Abzugs aus Afghanistan die gemeinsamen militärischen Kapazitäten für unabhängige Operationen stärken, um nach jahrzehntelangem Palaver in der Lage zu sein, schnelle Eingreiftruppen in Krisenzonen an der EU-Außengrenze, wie etwa der Grenze zu Weißrußland, zu schicken.

In die Pläne der EU-Kommission in Sachen Asyl, Migration und Schengen hat Macron aus gutem Grund wenig Vertrauen. Ähnlich wie die Eurogroup der Finanzminister will er die Probleme des Schengenraums unter den Regierungen durch die Innenminister ohne Brüssel direkt regeln. Zu Mittelosteuropa hat Paris traditionell ein distanziertes Verhältnis. So will Paris auch die Mittel des „Corona-Wiederaufbaufonds“ (NextGenerationEU) für Budapest und Warschau blockieren, solange diese die oft sehr anmaßenden und vom EU-Vertragsrecht kaum gedeckten Urteile des Europäischen Gerichtshofes ignorieren. In dem langwierigen Verhandlungsprozeß um den EU-Beitritt der Westbalkan-Länder wird Frankreich, wie gehabt, weiter auf der Bremse stehen, weil es an der Beitrittsfähigkeit von Bosnien-Herzegowina, Albanien und Nordmazedonien weiter berechtigte Zweifel hegt.

So verteilen sich auf jener ambitionierten Pariser Wunschliste je nach Geschmack Licht und Schatten. Nie wurden solche umfänglichen halbjährlichen Arbeitsprogramme je vollständig umgesetzt, zumal Macron und seinen Ministern bei Lichte besehen eigentlich nur zwei Monate für effektive Verhandlungen – und dies unter Corona-Bedingungen – zur Verfügung stehen. Auch wenn die Substanz mutmaßlich zu wünschen übriglassen wird, werden die Rhetorik und die Inszenierungen zweifellos beeindruckend werden. Für fünf weitere Jahre im Élysée-Palast hätte die aktuelle französiche EU-Präsidentschaft dann für Macron ihren Zweck erfüllt. 

Französische Präsidentschaft im EU-Rat: presidence-francaise.consilium.europa.eu

Foto: Staatspräsident Macron: Trotz einer Staatsverschuldung von 2,8 Billionen Euro werden unverdrossen Wahlkampfgeschenke verteilt