© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Im intellektuellen Lockdown
Forschung am Leitseil der Ideologie: Wissenschaftsfeinde mehren ihren Einfluß an deutschen Universitäten
Wolfgang Müller

Für die absolute Mehrheit der deutschen Hochschullehrer ist die Wissenschaftsfreiheit hierzulande nicht einmal im Ansatz gefährdet. Die USA und Großbritannien mit ihrer „zivilgesellschaftlich“ von unten organisierten, erhebliche Aggressionspotentiale entbindenden „Cancel Culture“ scheinen für sie so weit weg zu sein wie China oder die Türkei mit ihren von oben ausgeübten staatlichen Zensurpraktiken. Deutsche Professoren sehen, wie 2020 eine Allensbacher Umfrage ergab, ungleich größere Hemmnisse in der fehlenden Muße zum Forschen, verursacht durch Publikationszwang, Aufwand für die Drittmitteleinwerbung oder zu starke Belastung durch Lehrverpflichtungen. Die Rücksichtnahme auf politische Korrektheit einfordernde Dozenten oder Studenten stellte hingegen nur für dreizehn Prozent der Befragten eine ernstliche Einschränkung ihrer grundgesetzlich verbürgten Lehr- und Forschungsfreiheit dar.

Auch die Philosophin Elif Özmen (Gießen) skizziert im Themenheft „Wissenschaftsfreiheit“ der Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung (Aus Politik und Zeitgeschichte, 46/2021) größere Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit als die, die von der Moralisierung und Politisierung des Studienplans ausgehen, wie sie sektiererische Verfechter von Gender, Antirassismus und „Kritischer Weißseins-Forschung“ forcieren. Die „galoppierende Ökonomisierung“, der Zwang zur „Marktkonformität“, die seit der Bologna-Reform den Hochschulalltag bestimmen, sowie die damit parallel laufende, Humboldts Ideal „Einsamkeit und Freiheit“ geradezu verhöhnende Bürokratisierung des „Betriebs“ von Wissenschaft würden den Universitäten viel eher die Luft zum Atmen nehmen. 

An den Universitäten hat sich ein „Klima der Unfreiheit“ ausgebreitet 

Tatsächlich, so korrigiert Sandra Kostner (Pädagogische Hochschule Schwäbisch-Gmünd) ihre Kollegin Özmen, laufen aber nicht nur solche externen, mehr indirekt die Wissenschaftsfreiheit einengenden Faktoren „unterhalb des Radars der Öffentlichkeit“ ab. Entgegen der in der Allensbach-Umfrage abgebildeten Wahrnehmung habe sich längst auch im Innern der Institution Universität ein „Klima der Unfreiheit“ ausgebreitet. Kostner, die zu den Initiatoren des im Februar 2021 ins Leben gerufenen „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ zählt, macht dafür den vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften seit zwei Jahrzehnten dominierenden Typus des „Agendawissenschaftlers“ verantwortlich. Für den sei Wissenschaft keine rational kontrollierte, ergebnisoffene Suche nach objektivierbarer Erkenntnis und Wahrheit. Ihn leite vielmehr die Frage: „Wie lassen sich Forschung und Lehre nutzen, um die Gesellschaft gemäß der eigenen, am identitätspolitischen Paradigma ausgerichteten Agenda zu formen?“ 

Bei diesem Typus handle es sich also gar nicht um einen Wissenschaftler, der dem an Max Weber orientierten „Ethos epistemischer Rationalität“ gehorche, an das Özmen erinnert, wenn sie für seriöse Forschung auf Widerspruchsfreiheit, innere Kohärenz, Klarheit, Genauigkeit und Überprüfbarkeit pocht, sondern um einen ordinären Ideologen alten 68er-Schlages. Dieser sei stets bemüht, „Forschung“ nur in den Bahnen weltanschaulich gesetzter Normen zu treiben. Bei ihrem „Marsch durch die Institutionen“ hätten diese „akademischen Diskurswächter“ mittlerweile flächendeckend Lehrstühle in allen ideologisch für sie relevanten Disziplinen besetzt. Ihr Ziel sei wie ehedem ein „Bewußtseinswandel“, der – diesmal unter „multikulturellen“ Vorzeichen – eine „große Transformation“ hin zur „Gesellschaft der Gleichen“ auslösen soll. Geistige Unfreiheit bis hin zum „intellektuellen Lockdown“, werde dafür nicht nur in Kauf genommen, sondern „gezielt befördert“.

Als Anwältin des fast gleichnamigen, jedoch dezidiert linken „netzwerk-wissenschaftsfreiheit.org“ formuliert Jiré Emine Gözen eine extreme Gegenposition zu Kostner. An Michel Foucault geschult, betet die an der privaten University of Europe for Applied Sciences in Hamburg Medientheorie lehrende Professorin dessen Katechismus des „Dekonstruktivismus“ herunter, der, wenig originell, nur Karl Marx’ Axiom vom Sein, das das Bewußtsein bestimmt, variiert. Dementsprechend ist für Gözen „Wissenschaftsfreiheit“ ein soziales, nicht schützenswertes Konstrukt privilegierter Weißer. Was sie „die“ Wahrheit nennen, sei „objektiv wissenschaftlich“ gar nicht zu ermitteln, weil sie, wie Marx und in seinem Schlepptau Foucault behauptet, stets „klassenbedingt“ ist. Denn alle wissenschaftlichen Praktiken und Vorstellungen stünden in engem Zusammenhang mit der politisch-ökonomischen Verfaßtheit der jeweiligen Kultur. Wissenschaftliches Denken und Erkennen sei somit „hochgradig von dem Kontext, in dem sie entstehen“ abhängig, repetiert Gözen – davon nichts ahnend, weil allein auf Foucault fixiert – fast hundert Jahre alte Einsichten der deutschen Wissenssoziologie der Zwischenkriegszeit. 

Den Begriff „Menschenwürde“ neu definieren

Interessant ist jedoch, in welche Abgründe diese Relativierung des als „universalistisch maskiert“ angegriffenen „eurozentrischen“ Standardmodells von Wissenschaft und Rationalität führt – in die des „Trans- und Posthumanismus“. Wirkt doch Gözen mit am 2017 gegründeten Journal of Posthumanism, das der an einem US-Prärie-College lehrende deutsche „Metahumanist“ Stefan Lorenz Sorgner herausgibt. Sorgner gilt heute als „führender post- und transnationaler Philosoph“, der – anknüpfend an Nietzsches Ideal vom „Übermenschen“ – den Begriff der „Menschenwürde“ unter Einbeziehung von Cyborgs und Androiden neu zu definieren versucht. Dazu wiederum inspirierte ihn sein Lehrer Gianteresio Vattimo, ein italienischer Nietzscheaner des Jahrgangs 1936, der sich als „schwuler Atheist und Nihilist“ zu inszenieren liebt. Und der einem hedonistischen Existentialismus huldigt, der jedwede Tradition verachtet und Entwurzelung als „Chance“ predigt, um mit seiner „Ontologie des Aktuellen“ den Menschen vom „Ballast“ religiös-transzendentaler und historisch-kultureller „Hintergründe“ (Jürgen Habermas) zu „befreien“. 

Wie kurz dabei der posthumanistische Weg vom Übermenschen zum Unmenschen sein kann, beweist Vattimos judenfeindliches politisches Engagement. Der Alt-Marxist saß für die schwindsüchtige KP Italiens im EU-Parlament und profilierte sich dort als lautstarker Sympathisant der palästinensischen Terrortruppe Hamas. Israel als zionistischer, „Blut und Boden“ gegen die „unterdrückten“ Palästinenser verteidigender Staat sei ein auszulöschender „Nazi-Staat“, ließ sich Vattimo vernehmen, als „Pazifist“ zugleich bedauernd, nicht in Gaza mitkämpfen zu können. Vattimo, Sorgner und Gözen eint der posthumanistische Traum vom – wie die ewig pubertierende Medientheoretikerin schwärmt – „radikalen Umbruch der Welt, wie wir sie bisher zu verstehen gelernt haben“. 

Daß ausgerechnet die Gehaltsempfängerin eines elitären Privatkollegs, das zu einem weltweit operierenden Konzern gehört, der „Bildung“ in neoliberaler Manier nur hinter der Bezahlschranke vermittelt, das bestehende staatliche, weitgehend ohne Studiengebühren auskommende  „weiße System Wissenschaft“ abräumen will, weil dessen „Funktionieren“ angeblich auf „Diskriminierung, Prekarisierung und Ausschluß beruht“, ist zwar nicht ohne den Unterhaltungswert einer Realsatire. Was aber eintritt, wenn der „radikale Umbruch“ einer dafür trommelnden „posthumanen“ nützlichen Idiotin wirklich stattfände, hat der von der marxistischen Gleichheitsutopie erst spät kurierte polnische Philosoph Leszek Kolakowski 1970 kühl prognostiziert: „Hätten nicht immer neue Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben. Wenn aber die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell werden sollte, werden wir uns wieder in den Höhlen befinden.“ 

 www.bpb.de

 www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de

Foto: BWL-Studenten in der Westfälischen Wilhelms-Universität: Die Luft zum Atmen nehmen