© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Die neue Lust am Demonstrieren
Gemeinschaft der Freien und Gleichen: „Spaziergänger“ hat es schon zu Aristoteles’ Zeiten gegeben
Fabian Schmidt-Ahmad

Kaum im Amt, sorgt die neue Bundes-innenministerin Nancy Faeser (SPD) mit eigenwilligen Ansichten zu Recht und Gesetz für Unterhaltung. „Man kann seine Meinung auch kundtun, ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln“, schnarrte sie auf Twitter. Immerhin, von Artikel 8 des Grundgesetzes hat sie in ihrem Jurastudium schon mal etwas gehört. „Jeder hat das Recht sich friedlich zu versammeln“, räumte sie an anderer Stelle ein. Verstanden hat sie ihn dennoch nicht.

„Aber man muß aufpassen, mit wem man auf die Straße geht und ob man das, was an Haß, Hetze und Gewalt stattfindet, auch für sich gelten läßt“, grollte es warnend. „Wir ziehen die Grenzen da, wo es um Haß und Hetze geht. Rechtsextremisten mißbrauchen die Corona-Demos zunehmend für ihre Ideologie gegen den Staat. Wir werden dort mit konsequenter Strafverfolgung hart durchgreifen.“

Was der Extremistin auf dem Ministerstuhl an fach- und charakterlicher Eignung fehlt, macht sie durch Engagement wett – und das wirkt ansteckend auf untere Ränge. Ganz vorne dabei in diesem Kreativwettbewerb totalitärer Sprachperlen die Stadt Dresden, die ein „stadtweites Verbot von Versammlungen des maßnahmenkritischen Klientels“ verkündete. Sätze für das Geschichtsbuch: „Untersagt sind alle Versammlungen, welche den gemeinschaftlichen Protest gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (Hygienemaßnahmen, Impfungen etc.) zum Gegenstand haben“, heißt es in der Bekanntmachung zur „Einschränkung“ des Versammlungsrechts für den 22. Januar dieses Jahres. „Dies gilt sowohl für sich fortbewegende Versammlungen (Aufzüge und sogenannte ‘Spaziergänge’) als auch für stationäre Versammlungen (Kundgebungen).“ Was wie die gelungene Parodie einer SED-Kreisleitung wirkt, ist tatsächlich ernst gemeint.

Wenn eine Tyrannei der Mehrheit herrscht

Demokratie hat schon immer Mißtrauen geweckt. Bereits Platon sah in ihr das „bunte und vielköpfige Tier“, das sich wechselnder Leidenschaften hingibt, statt das wahre Sein der Dinge zu ergreifen. Aber nur das wahre Sein der Dinge ist ewig, fest und unveränderlich. Die Leidenschaften dagegen können nicht zur Erkenntnis führen, sondern lassen die Seele trunken taumeln. So bleibt die Menge stets im Irrtum und Opfer derjenigen, die ihre Leidenschaften aufstacheln. Ihr setzt er daher einen Philosophen als König vor.

Über zweitausend Jahre später klingt das so: „Aus unserer Perspektive ist der neue Autoritarismus auch eine Reaktion auf gesteigerte Anomievulnerabilitäten, die sich infolge von gesellschaftlichen Modernisierungsschüben und darin eingebundenen biographischen Verläufen ungleich auf bestimmte Bevölkerungsgruppen verteilen.“ Weiter heißt es in der vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main herausgegebenen Studie „Autoritarismus und Zivilgesellschaft“: „Für die untersuchten Personen ist die soziale und politische Ordnung in mehrfacher Hinsicht erodiert“.

Eine „aufgeheizte Atmosphäre der letzten Jahre, die in der Öffentlichkeit und im Internet allgegenwärtig war“, habe „wie ein Brandbeschleuniger der Radikalisierung“ gewirkt. Erkennbar unter anderem daran: „Während in der Öffentlichkeit insbesondere über Gender, die Lebensweise der Kosmopolit_innen, den Linksliberalismus etc. diskutiert wird, messen die Interviewten diesen Themen nur eine relativ geringe Bedeutung bei.“ Wir ahnen, Platons Philosophenkönige sind nicht unbedingt in Würde gealtert.

Die neue Lust der Deutschen am Demonstrieren und die Angst ihrer Politiker – hier finden wir zwar unfreiwillig Erheiterndes, aber nichts Erhellendes. Dabei sind Demonstrationen für eine Regierung nicht von vornherein schlecht. Im Gegenteil, als organisiertes Defilee des politischen Willens verleihen sie diesem überhaupt erst Schlagkraft. Doch besteht immer die Gefahr, daß die entfesselte Menge die Führung übernimmt und ihrerseits exponierte Repräsentanten zum Beiwerk macht.

Das sind die Dreh- und Wirbelpunkte der Geschichte, wo alles möglich ist, das Höchste und das Niedrigste, auf das gehofft und das zugleich befürchtet wird. Das Niedrigste, das ist eben das bunte, vielköpfige Tier, das jeden in Stücke reißen kann. Das Höchste aber ist die wechselweise Herrschaft der Freien und Gleichen, wie es Platons Schüler Aristoteles formulierte. Seine Lehre, die er in Konkurrenz zu Platons Anhängern in einer eigenen Schule vertrat, zeichnete ein positives Bild der Demokratie. 

Für Aristoteles ist die selbstgenügsame Polis Voraussetzung des sittlich guten Lebens. Ein wurzelloser Weltbürger, der sich außerhalb der Gemeinschaft stellt, hört dagegen auf, Mensch zu sein. „Denn der Mensch ist ein von Natur aus soziales Wesen“, heißt es in seiner „Politik“. Doch auch die Gemeinschaft der Freien und Gleichen kann für Aristoteles fehlgeleitet werden. Dann nämlich, wenn nicht mehr das Gemeinwohl, sondern Partikularinteressen überwiegen.

Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein demokratisch verfaßtes Gemeinwesen das Bürgerrecht an jeden verleiht, der sich gerade in der Polis aufhält. Dann herrscht eine Tyrannei der Mehrheit, die die wenigen Tüchtigen zum eigenen Vorteil ausbeutet. Denn jene haben gar nicht die Muße, sich gleichermaßen an den Versammlungen zu beteiligen. „So kommt es, daß dann die Menge der Armen sich der Staatsleitung bemächtigt und nicht die Gesetze herrschen.“

Aristoteles’ Schule in Athen war übrigens am Peripatos gelegen, zu deutsch „Spazierweg“, einem Verbindungsweg zwischen Akropolis und verschiedenen Heiligtümern. Entsprechend wurden seine Anhänger später als „Spaziergänger“ verballhornt. Das mag vielleicht das Rätsel lösen, warum heute ein Spaziergang zum staatsfeindlichen Akt werden kann. Doch dazu weiß unsere Philosophenkönigin Faeser vielleicht mehr.