© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Die Bildersprache der Berliner Republik
Politik ohne Ästhetik
Marco Gallina

Politik hat eine ästhetische Form. Sie spielte sich einst zwischen Kirschholztischen, beim Tee oder Kaffee ab, suchte versteckte Hinterzimmer für Intrigen auf oder entfaltete sich in barocken Hallen, in denen Deckengemälde von der reichen Geschichte ihrer Machthaber erzählten. Von der Antike bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein wollte Politik nicht nur bloß existieren: Sie lechzte nach einem größeren Rahmen. Das schmutzigste Geschäft der Welt braucht Brokat, Blattgold und Ölfarben, um sich selbst zu verhüllen. Machthaber bedürfen der Ästhetik nicht allein der Repräsentation wegen. Kunst hat den Anspruch, die menschliche Existenz auf eine höhere Stufe zu heben; die Politik sehnt sich daher nach der Kunst, weil sie über das Wohl und Wehe menschlicher Existenz entscheidet.

Daß Allegorien – etwa von Gerechtigkeit und Weisheit – die politische Architektur schmückten, war demnach nicht nur eine Frage von Prestige und Propaganda, sondern auch Ermahnung. Wenn im Dogenpalast Venedigs die Galeeren der Serenissima gegen den türkischen Mond triumphierten, dann auch immer unter dem Vorzeichen des Kraftaktes. Den Maggior Consiglio, den großen Ratssaal der Republik, dominiert bis heute das Gefühl, daß an diesem Ort welthistorische Entscheidungen gefallen sind – unter den Augen einstiger Dogen, die 1.100 Jahre lang an der Spitze des Staates standen. Dazu zählt auch ein verhülltes Porträt des Dogen Marino Faliero, der angeblich nach der Alleinherrschaft strebte und deswegen der damnatio memoriae anheimfiel. Der Fingerzeig ist überdeutlich: Politiker sind nur Diener des Staates, nicht seine Herren.

Die Selbstdarstellung der Berliner Republik besteht dagegen aus einem Bruch mit solchen Traditionen und dem ostentativen Mangel an überzeitlichem Bewußtsein. Die kürzlich neugewählten Bundestagsabgeordneten werden weder auf einen florentinischen David treffen, der das republikanische Selbstbewußtsein verewigt, noch auf ein Programm aus Fresken wie Siena, das den Politikern die gute und die schlechte Regierung gegenüberstellt. Kontinuität, wie sie in anderen modernen Nationalstaaten – trotz wechselnder Regierungsformen – gewahrt wird, ist Deutschland fremd.

Vergangenheit, insbesondere jene vor 1945, begreift die Formenwelt der anti-ästhetischen Republik als Herausforderung, gegen die es zu opponieren gilt. Daß der französische Staatspräsident im Élysée-Palast der Bourbonen und des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe residiert, oder dessen italienischer Amtskollege gar die ehemalige Papstresidenz auf dem Quirinal bewohnt, erscheint absurd angesichts des deutschen Bundespräsidentensitzes. Das Schloß Bellevue ist angesichts seiner bundesdeutschen Geschichtslosigkeit eine verschämte Notlösung.

Das überdimensionale Ufo, das direkt daneben gelandet ist und sich selbst als „Bundespräsidialamt“ betitelt, ruft dagegen ins Gedächtnis, daß Bellevue das geringste Übel der deutschen politischen Ästhetik ist. Die zeitgenössische Konstruktion wartet als schwarzes Ei mit weißem Überzug auf. Das Hauptaugenmerk lag offensichtlich nicht darauf, daß spätere Generationen sich der Bedeutung des Amtes bewußt werden – sondern auf der Installation einer Photovoltaikanlage auf dem Dach. Bereits in den neunziger Jahren deutete sich an, daß der deutsche Geist mehr um umweltpolitische, denn ästhetische Fragen kreist.

Berlin ist das Symbol politischer Diskontinuität. Das galt bereits bei der Reichsgründung von 1871. Die für deutsche Verhältnisse relativ junge Stadt war kein gesamtdeutscher Erinnerungsort und damit bar jedweder architektonischen oder ästhetischen Kontinuitäten aus dem Alten Reich. Die Reichsgründung führt diesen Makel plastisch vor Augen: Sämtliche Gebäude, die von der Reichsregierung benutzt wurden, entstammten nicht einer gemeinsamen deutschen Geschichte, sondern waren dezidiert preußischen Ursprungs. Der preußische Ministerpräsident war nun Reichskanzler, residierte aber in demselben Palais, das er 1869 für die Staatsregierung erworben hatte. Institutionen, die mit der gesamtdeutschen Geschichte in Verbindung standen – Wetzlar als Sitz des Reichskammergerichtes, Regensburg als Sitz des Reichstages, Frankfurt als Sitz der Bundesversammlung des Deutschen Bundes –, spielten keine Rolle. Nicht nur in politischer, sondern auch in ästhetischer Hinsicht war das Deutsche Kaiserreich ein erweitertes Großpreußen. In den Räumen des politischen Spiels wohnte der Geist der Landadligen und Feldherren. Während der italienische Senat seit 1871 im Palazzo Madama tagte, wo Medici, Habsburger und Kardinäle Intrigen gesponnen und Schicksale entschieden hatten, trat der Reichstag in der ehemaligen Königlichen Porzellanmanufaktur zusammen.

Was man dem „ersten Umzug“ nach Berlin zugute halten muß: dort, wo neue Gebäude entstanden, propagierten die preußischen Urheber des Kaiserreichs die gesamtdeutsche Geschichte und stellten sich in eine Tradition mit den Vorläufern. Das spätere Reichstagsgebäude läßt nur anhand des Reichswappens am Portal und seines Figurenschmucks an den Ecktürmen den traurigen Rest eines vergangenen Programms erkennen: Hier finden nicht nur die Deutschen als Volk zur Einheit, sondern auch seine Tugenden wie Wehrkraft und Rechtspflege; seine Schichten, ob Bauer, Handwerker oder Elektroingenieure; seine Künste, ob Literatur oder Malerei; sein faustisches Streben, das nach den Weltmeeren und kathedralengleichen Industriehallen trachtet. Die äußere Formensprache und die hölzernen Innenräume riefen die Erinnerung an die Blüte des Alten Reichs in der Renaissance wach.

Übriggeblieben ist davon so wenig wie von der kaiserlichen Reichskrone auf der Kuppel. Der „zweite Umzug“ nach der Friedlichen Revolution 1989/90 verschwindet in kastenförmiger Tristesse, wenn der Besucher vom Reichstag Richtung Spreeufer blickt. Anderswo verliert sich das Bundesviertel in gläsernen Spielereien, so beim Jakob-Kaiser-Haus; ihr Sinn oder ihre Bedeutung bleiben – anders als bei den allegorischen Relikten der Vergangenheit – größtenteils verborgen. Der Eindruck von Glas und Beton wiegt vor, die auf jede Form des Schmucks zugunsten reiner Größe verzichten. In der Antike erschienen die Spartaner als Außenseiter, weil sie die Säle für öffentliche Versammlungen nicht ausschmückten – Kunst und Dekoration sollten nicht vom eigentlichen Geschehen ablenken.

Ähnlich stolz ist die Berliner Republik auf die eigene Aussage, daß das Glas ihrer Bauten Transparenz der Demokratie, die Schlichtheit ihrer Räumlichkeiten Funktionalität und umweltschonende Innovation verdeutlichten. Die Webseite des Bundestages verkündet: „Die Kunst hat dank kulturellen Engagements des Parlamentes Einzug in die Räume der Politik gehalten. Künstler kommentieren und begleiten mit ihren Werken die Arbeit der Parlamentarier. Sie nutzen das Parlament also als Bühne zur Darstellung ihrer eigen-, oft widerständigen Positionen.“ Daß diese Art Kunst den ästhetischen Raum der Politik mit allen Mitteln torpediert, merkt man auf Schritt und Tritt.

Der Fehler zeitgenössischer Kunst zeigt sich an ihrer Halbwertszeit: Nichts altert so sehr wie ein Pop-Art-Bild von Scheidemann oder ein Betonkoloß wie das Kanzleramt. Sie wirken heute abgegriffen. Das Reichstagsgebäude ist ein entkernter Bau, von dem nur die Fassaden stehen. Ein steriler Gegenentwurf zum Renaissancegedanken, in dem einzig die Graffiti sowjetischer Soldaten ein Lebenszeichen menschlicher Seele sind. In diesen Momentaufnahmen ruht die Geschichte, weil sie von Menschen handeln, die ihre Biographien verewigten. Die Namen der Abgeordneten ruhen dagegen in den Metallsärgen des Kellers. Auch das ist eine Botschaft, wenn auch eine unbewußte.

Ansonsten regiert die blanke Selbstreferentialität: Wir, die Volksvertreter, sind effizient, demütig und transparent. Wo aber ist das Volk? Wo die Kontinuität? In der Bildersprache der Bundesgebäude zeigt sich der graue Beamtenstaat, dessen immergleiche Amtsstuben sich in langweiligen Fensterreihen des Innenministeriums Bahn brechen. Hier gibt es nichts, was älter als dreißig Jahre ist. Auch ästhetisch kennt die Berliner Republik nur sich selbst. Der Geist, der hier herrscht, wurde kürzlich erst geboren: er kennt nur sich, nur seine Zeit. Die Tiefe des menschlichen Dilemmas, die Ahnenreihe seiner Vorgänger, das Wissen darum, was Volk, was Staat, was gerechte Herrschaft ausmachen, ist ihm fremd. Sein Verweis auf die Vergangenheit ist durchweg negativ und will sagen: gut, daß ich neu bin und nicht alt. Es ist ein Raum, in dem Fehler geboren werden müssen, weil er keine Kontinuität, keine Identität, keinen Gott kennt. Die Parlamentarier sitzen lediglich unter einem Adler aus Metall; die Inschrift am Portal, die dem deutschen Volk geweiht ist, weist nach außen. Die Venezianer, die sich im Maggior Consiglio versammelten, saßen dagegen unter der richtenden Hand des Gottessohnes, der am Jüngsten Tag die Gerechten von den Ungerechten scheidet.






Marco Gallina, Jahrgang 1986, ist Redakteur bei Tichys Einblick. Gallina hat Geschichte und Politikwissenschaft in Verona und Bonn studiert. Im Anschluß war er bis vergangenes Jahr Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.

Foto: Impressionen aus dem Berliner Regierungsviertel, links das entkernte Reichstagsgebäude, rechts das Funktionsgebäude Paul-Löbe-Haus: Symbolik politischer Diskontinuität