© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

In 72 Tagen um die Welt
Vor einhundert Jahren starb Nellie Bly, die Begründerin des Investigativjournalismus und einstmals „schnellste Frau der Welt“
Ludwig Witzani

Manchmal werden Märchen wahr. Eine junge, mittellose Frau schreibt einen Leserbrief, der den Leiter der Redaktion veranlaßt, der jungen Frau eine Stellung anzubieten. Als Journalistin wird sie weltberühmt, ehe sie einen Millionär heiratet und zur Unternehmerin aufsteigt. Die Rede ist von Elizabeth Cochran alias Nellie Bly, der ehemals „schnellsten Frau der Welt“. 

Das Präludium zu diesem Märchen ist schnell erzählt. Elizabeth Cochran wurde am 5. Mai 1864 als drittes von fünf Kindern des Ehepaares Michael und Mary Cochran in Pennsylvania geboren. Ihren Vater verlor sie mit sechs Jahren, ihr Erbe wurde vom zweiten Ehemann ihrer Mutter durchgebracht, und ihr Studium mußte sie wegen Geldmangels aufgeben. 

1884 las die junge Elizabeth in der Zeitung Pittsburgh Dispatch einen frauenfeindlichen Artikel, der sie derart in Rage brachte, daß sie einen empörten Leserbrief verfaßte. Der Chefredakteur war von diesem Leserbrief so beeindruckt, daß er die Absenderin ausfindig machte und ihr eine Stellung als Reporterin anbot. Ihrer Versetzung in die Moderedaktion entzog sie sich durch eine Reise nach Mexiko, über das sie so kritisch berichtete, daß sie ausgewiesen wurde. 1887 verließ sie den Pittsburgh Dispatch und ging nach New York, wo sie noch im Herbst des gleichen Jahres eine Anstellung bei der New York World fand. Da Frauen damals unter Pseudonym veröffentlichten, wählte sie den Namen „Nellie Bly“ nach einer Figur aus einem Spottlied von Stephen Foster. Joseph Pulitzer, der Herausgeber der New York World, beauftragte die junge Kollegin mit einer Reportage über die Mißstände in einer Nervenheilanstalt für Frauen auf Blackwell’s Island. Anstatt darüber nur zu recherchieren, ließ sich die junge Reporterin als Patientin in die Anstalt einweisen, um die Zustände am eigenen Leib zu erfahren. Mit ihrem Buch  „Ten Days in a Mad House“ (1888) wurde sie auf diese Weise zu einer der Begründerinnen der Investigativreportage.  

Ein Jahr später entwickelte sie die Idee einer Weltreise mit dem Ziel, die „Reise um die Welt in achtzig Tagen“, wie sie Jules Verne 1873 beschrieben hatte, zu unterbieten. Herausgeber Joseph Pulitzer erkannte das Werbepotential dieses Projektes und schickte Nelly Bly am 14. November 1889 unter maximaler Beteiligung der Öffentlichkeit auf die Reise. Aus heutiger Sicht muß man allerdings zugeben, daß im Jahre 1889 eine Umrundung der Welt in 80 Tagen kein wirkliches Problem mehr darstellte. Seitdem 1869 der Suezkanal fertiggestellt und im gleichen Jahr die transkontinentale Eisenbahnverbindung von New York nach San Francisco vollendet worden war, ging es nur noch darum, im Rahmen planbarer Schiffs- und Zugverbindungen nicht allzu oft die Anschlüsse zu verpassen. Schon 1870 hatte der Weltreisende George Francis Train, das reale Vorbild für Jules Vernes Phileas Fogg, die Welt auf diesen neuen Routen in achtzig Tagen bereist, und das, obwohl er in Lyon 13 Tage im Gefängnis gesessen hatte. 

Reisebeschreibungen entsprechen nicht der Political Correctness

Trotzdem hatte Nellie Bly auf der Überfahrt nach Europa heftig mit der Seekrankheit zu kämpfen. Ein Besuch bei Jules Verne in Amiens verebbte in Peinlichkeit, weil keiner von beiden die Sprache des anderen verstand. Weiter ging die Reise nach Süditalien, dann nach Ägypten, durch den Suezkanal und über Aden nach Colombo, Malaysia, Singapur und Hongkong. Erst in Hongkong erfuhr Bly, daß sie eine Konkurrentin hatte. Der Verleger John Walker, der Herausgeber des Cosmopolitan, hatte sich an das spektakuläre Projekt angehängt und seine Reporterin Elizabeth Bisland ebenfalls am 14. November 1889 auf der entgegengesetzten Route um die Welt geschickt. 

Letztlich triumphierte Bly über Bisland, weil Bisland in England mehrere Anschlüsse verpaßte. Bly dagegen war es gelungen, in Yokohama das passende Schiff für die Passage nach San Francisco zu erreichen. Allerdings lag sie bei ihrer Ankunft in Kalifornien am 21. Januar 1890 bereits zwei Tage hinter dem Zeitplan. Um ganz sicherzugehen, charterte Joseph Pulitzer einen Privatzug, der Nellie Bly in wenigen Tagen durch die gesamten Vereinigten Staaten bis an die Ostküste brachte. Dort traf sie, von tausenden Schaulustigen umjubelt, am 25. Januar 1890 um 15.51 Uhr wieder in New York ein, genau 72 Tage, 6 Stunden und 11 Minuten nach dem Beginn ihrer Reise.

Als „schnellste Frau der Welt“ fand ihr Buch „Around the World in 72 Days“ reißenden Absatz. In diesem Buch berichtet sie, den Sitten und dem Geist der Zeit gemäß, mitunter etwas derbe über die Einheimischen, was sie unter nachgeborenen Antirassisten neuerdings in Verruf gebracht hat. Die Spiegel-Autorin Fabienne Hurst hat dazu vor einigen Jahren einen verleumderischen Artikel über Bly als mehr „verwöhnte Touristin als wißbegierige Reisereporterin“ geschrieben, in dem sie sich über die „menschenverachtende Ignoranz“ echauffiert, mit der Bly etwa Chinesen in Hongkongs Elendsvierteln beschreibt, die sich dort „in all ihrem Unflat zusammendrängen“. Katja Schnitzler korrigierte anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Weltumrundung in der Süddeutschen Zeitung das fatale, rein auf gängige Kolonialismus- und Rassismuskritik reduzierte Urteil.  

1895 heiratete die erst 31jährige Nellie Bly völlig überraschend den vierzig Jahre älteren Millionär und Stahlunternehmer Robert Seaman. Als ihr Gatte 1904 starb, betrat Nellie Bly wieder Neuland und übernahm als erste und einzige Frau in den damaligen Vereinigten Staaten die Leitung eines Industrieunternehmens. Sie verbesserte den Gesundheits- und Arbeitsschutz für ihre Belegschaft und produzierte zeitweise mit 1.500 Angestellten und Arbeitern 1.000 Stahlfässer am Tag. Allerdings geriet das Unternehmen bald in schweres Fahrwasser. Unterschlagungen von Mitarbeitern und  kostspielige Prozesse führten zum Konkurs, so daß Nellie Bly, gerade fünfzigjährig, in den Journalismus zurückkehrte. Während des Ersten Weltkriegs reiste sie als Kriegsberichterstatterin nach Europa und schrieb von den Fronten auf dem Balkan und in Polen. Der durchschlagende Erfolg früherer Jahre aber blieb aus, vielleicht auch weil Nellie Bly über die falsche Seite, eben die Mittelmächte, berichtete. 

In die USA zurückgekehrt, arbeitete sie weiter als Autorin und Journalistin. Im Winter 1921/22 erkrankte sie an einer Lungenentzündung, der sie am 27. Januar 1922 im Alter von nur 57 Jahren erlag. Begraben wurde sie auf dem Woodlawn Cemetery in New York, übrigens ebenso wie Elizabeth Bismland, die Frau, die sie bei dem Wettrennen um die Welt im Jahre 1890 um vier Tage geschlagen hatte.  

Foto: Elizabeth Cochrane um 1890: Mit einem empörten Leserbrief begann ihre Karriere