© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Agenda der Dekonstruktion
Der Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera über den Gender-Gleichheits- und Machbarkeitswahn
Martin Voigt

Um was geht es eigentlich beim Gendern? Gender-Debatten kreisen meist um den Genderstern, um das Gendern der Sprache. In nahezu allen öffentlichen Textgattungen wird inzwischen das generische Maskulinum mißachtet, um mit Sternchen oder Doppelpunkt sämtliche sexuelle Identitäten „mitzumeinen“. Der politisch forcierte Eingriff in die Sprache ist allgegenwärtig. Daher auch die Fokussierung auf das „Gendern“. Es geht dabei aber um weitaus mehr als neue, nervige Schreibregeln: Die Grundpfeiler des Menschlichen sollen einstürzen. Die Schlachtfelder lauten Ehe, Familie, Kinder und sexuelle Identität.

Der Biologieprofessor Ulrich Kutschera hat bereits in Sachen Gender-Kritik hinreichend Prozeßerfahrung. Trotzdem nimmt er kein Blatt vor den Mund. Kutschera will die dekonstruktivistische Agenda auf all ihren Feldern deutlich machen und ist dabei der Wissenschaft verpflichtet. Mit über 300 Fachpublikationen und 15 Büchern zählt er bei „ResearchGate“ immerhin zur weltweiten Top-Kategorie in den Naturwissenschaften. Hierzulande erlangte Kutschera Bekanntheit mit Thesen, die für an den politisch-korrekten Singsang gewöhnte Ohren, gelinde gesagt, ungewohnt klingen: „Sollte das Adoptionsrecht für Mann-Mann- bzw. Frau-Frau-Erotikvereinigungen kommen, sehe ich staatlich geförderte Pädophilie und schwersten Kindesmißbrauch auf uns zukommen.“ Eine Strafanzeige und Gerichtsverfahren waren die Folge. Obwohl er vielerlei Studien und Belege präsentierte, wurde Kutschera zu einer Geldstrafe verurteilt. Den späteren Freispruch Kutscheras im Berufungsprozeß deutet er als einen Sieg für die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Bis vor das Bundesverfassungsgericht wäre der Evolutionsbiologe noch gezogen, um die woken Diskurse weiter aufzumischen, bekennt er. 

Seinem Werk „Das Gender-Paradoxon“ aus dem Jahr 2016, das sich den Auswüchsen der radikal-feministischen „Geschlechter-Theorie“ wie etwa der „Leihmutter-Menschenzucht“ und dem „Gender-Kreationismus“ widmet, folgt nun: „Strafsache Sexualbiologie – Darwinische Wahrheiten zu Ehe und Kindeswohl vor Gericht“. Die beinahe 600 Seiten präsentierten „alles, was Sie schon immer über Sex und Erotik wissen wollten“, so die Ankündigung auf dem Klappentext. Das Aufklärungsbuch zu „Liebe, Elternschaft und Kindeswohl“ hat dabei aber auch immer Charles Darwins Werke über die Abstammung des Menschen und die sexuelle Selektion im Blick.

Kutschera nimmt seine Leser mit auf eine abenteuerliche Reise durch sexualbiologische Studien und ideologisch motivierte Gerichtsverfahren. Denn über jedem, der offensiv Bedenken oder gar Kritik gegen die LGBTQ- und Genderideologie vorbringe, schwebe das Damoklesschwert der justitiablen Volksverhetzung. Er reflektiert dabei auch die Netzwerke des Sexualwissenschaftlers und aktiven Befürworters der Pädosexualität Helmut Kentler (1928–2008) und des neuseeländischen Psychologen und Genderpioniers John Money (1921–2006).

Kutschera mahnt Forschung ohne politisch korrekte Denkverbote an

Wer durch die Seiten blättert, wird neben Kutscheras teilweise polemischen und provokativen Werturteilen bemerken, daß seine eigentliche Leidenschaft die Biologie ist – allerdings als Forschung ohne politisch korrekte Denkverbote. So referiert er über die Grundlagenforschung zur Homosexualität, die auch pränatal durch Prägung erworbene und nicht grundsätzlich als angeborene Neigung  aufzufassen sei. Eine Pathologisierung homoerotisch veranlagter Menschen lehnt Kutschera daher kategorisch ab. Damit liegt er natürlich trotzdem weitab der aktuellen Gender-Lehre, wonach jeder sein Geschlecht, seine sexuelle Identität und erotische Neigung selbst aussuchen könne. Grund genug für den Naturwissenschaftler, ausführlich darzulegen, daß die Pfeiler der menschlichen Identität keine „freiwillig gewählten Lebensentwürfe“ seien. Für die These einer „qualvollen Leidenschaft“ führt Kutschera die Biographien von Alexander von Humboldt, Peter Tschaikowski, Otto H. Warburg und Alan Turing an, die Opfer strenger gesellschaftlicher Normen wurden.

Wie gefährlich der Gleichheits- und Machbarkeitswahn einiger Gender-Wissenschaftler ist, zeigt sich im Transgender-Kult, den Kutschera „Mädchen-Zerstörung“ nennt – ein Mode-Phänomen, das über soziale Online-Netzwerke angeheizt wird. „So scheint es für junge Mädchen faszinierend zu sein, mit Eintritt des Teenager-Alters als ein von anderen bewundertes ‘Transgender-Wesen’ zu gelten“, schreibt Kutschera mit Blick auf Studien aus Großbritannien. In dem Land sei die Zahl der Anfragen bezüglich einer Geschlechtsangleichung von jungen Frauen, die sich vermeintlich „im falschen Körper befinden“, in den vergangenen zehn Jahren um 4.400 Prozent gestiegen. Diese Mädchen „bilden sich ein“, so Kutschera, „durch Einnahme von Pubertätsblockern, geschlechtsübergreifenden Steroidhormonen und das Entfernen ihrer wachsenden Brüste zu vitalen, glücklichen jungen Männern ‘umkonstruiert’ werden zu können.“ 

Auch in Deutschland stellen immer mehr Mädchen die Forderung nach einer medizinischen Geschlechtsumwandlung. Im Jahr 2018 haben sich laut Statistischem Bundesamt 619 Frauen einer solchen Operation unterzogen. Zehn Jahre zuvor waren es noch 247 Frauen. Solche Moden hätten nichts mit echter „Gender-Dysphorie“ zu tun, ist Kutschera überzeugt. Kindern werde schon in der Schule eingeredet, die Biologie sei unwichtig, Menschen seien soziale Konstrukte und das Geschlecht könne man sich aussuchen. Es handele sich aber um „nicht mehr reparierbare Eingriffe in die Entwicklung an sich gesunder Mädchen“. Sterilität, lebenslange Medikamenteneinnahme und psychische Störungen seien oft die Folge. Und hier spricht Kutschera wieder einmal Tacheles: „Hier zeigt neben der Gleichheits-Ideologie und dem Ignorieren sexualbiologischer Fakten der Sozialkonstruktivismus seine zerstörerische Fratze.“

Ulrich Kutschera: Strafsache Sexualbiologie. Darwinische Wahrheiten zu Ehe und Kindeswohl vor Gericht. Verlag Tredition, Hamburg 2021, broschiert, 588 Seiten, 27,90 Euro

Foto: Varianten des neuen Gender-Kreationismus: Im Namen der Diversität sollen die Grundpfeiler des Menschlichen einstürzen