© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Politisch passende Horrorzahlen
Epidemiologische Fehleinschätzungen zeitigten in der Corona-Pandemie auch globale Folgen
Jörg Schierholz

Corona katapultierte Epidemiologen und Virologen 2020 als Berater ins Rampenlicht. Wer kannte vorher Melanie Brinkmann, Christian Drosten, Hendrik Streeck oder Lothar Wieler? Doch bei der Ausbreitung von Infektionen, der Vorhersage des Pandemieverlaufs sowie der Bewertung von Masken und Lockdowns erwies sich manche Prognose als fehlerhaft. Das klärt auch, warum laut aktuellem Wissenschaftsbarometer den verkündeten Vorhersagen kaum vertraut wird: Im April 2020 glaubten noch 44 Prozent den Aussagen von Politikern zu Corona „voll und ganz“ oder wenigstens „eher“. Im November 2021 waren es nur noch 18 Prozent.

Journalisten sind mit 20 Prozent kaum vertrauenswürdiger. So wurde noch Anfang März 2020 die Forderung nach systematischen Einreisekontrollen und Grenzschließungen als „rechts“ verteufelt – am 17. März ordnete Innenminister Horst Seehofer (CSU) dann plötzlich zur „Eindämmung der Infektionsgefahren durch das Coronavirus weitreichende Einreisebeschränkungen an den deutschen Schengen-Außengrenzen an“. Und flugs wurde eine mediale Kehrtwende vollzogen. Vor der Bundestagswahl wurde eine Impfpflicht von führenden Unions-, SPD- und FDP-Politikern ausgeschlossen – am 10. Dezember 2021 wurde diese zunächst für Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen von Bundestag und Bundesrat abgenickt.

Gibt es Mitte Februar täglich mehrere hunderttausend Fälle?

Sie gilt wohl ab 16. März. Zudem sind dann alle Beschäftigten verpflichtet, beim Arbeitgeber einen Nachweis über eine „vollständige Covid-19-Schutzimpfung“, einen Genesenennachweis oder ein ärztliches Attest vorzulegen, wenn sie sich nicht impfen lassen können. Projektionen möglichst hoher Infizierten- und Todeszahlen sind dabei immer im Spiel. Man erinnert sich noch an die Voraussagen von 150.000 Toten beim „Rinderwahn“ (BSE) in den neunziger Jahren oder 65.000 Todesfällen bei der Schweinegrippe alleine in England. Die tatsächlichen Zahlen lagen dann weit darunter.

Vorigen Freitag vermeldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 140.160 positive Corona-Tests – so viel, wie nie zuvor. SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach rechnet für Mitte Februar „mit mehreren hunderttausend“ gemeldeten Fällen pro Tag. Ob aber in der Folge auch die Zahl der Covid-19-Todesfälle im März auf die bisherigen Extremwerte von Dezember 2020 oder Januar 2021 (21.962 bzw. 21.832 Verstorbene) klettert, ist hingegen bei 73 Prozent doppelt Geimpften, etwa acht Millionen Genesenen und angesichts des milden Verlaufs der neuen Omikron-Variante fraglich. Die Zahl der positiv Getesteten in Südafrika und Großbritannien geht trotz Aufhebung vieler Maßnahmen zurück.

Epidemiologische Fehleinschätzungen gab es schon immer: Ignaz Semmelweis, einer der Väter der modernen Hygiene, wurde 1850 von seinen universitären Kollegen verleumdet und zur Rückkehr von Wien nach Budapest veranlaßt, obwohl er mit seinen Analysen zu Krankenhausinfektionen richtiglag. Der Brite John Snow mußte 1855 seine bahnbrechende Hypothese zum Ursprung der Cholera-Epidemien (Erreger im Trinkwasser) gegen seine Kollegenschaft verteidigen, da diese sich weiter an die antike Miasma-Theorie klammerte.

Die Corona-Pandemie brachte nun globale politische Maßnahmen aufgrund epidemiologischer Prognosen. Am 16. März 2020 veröffentlichte Neil Ferguson (Imperial College London) mit Kollegen den „Report 9“, er prognostizierte 550.000 Corona-Tote für Großbritannien und 2,2 Millionen für die USA sowie eine 30fache Überlastung der Krankenhausbetten. Es wurden ein harter Lockdown à la China, eine Haushaltsquarantäne und Schulschließungen für 18 Monate empfohlen. Bislang wurden 155.000 bzw. 860.000 Covid-Todesfälle registriert – trotz/wegen des Lockdowns oder späteren Laissez-faire plus Massenimpfung? In Deutschland wurde noch im März 2020 der Schwenk von einer harmlosen Grippe zur Prognose von bis zu einer Million Toten vollzogen – wenn man nicht sofort handeln würde. Schutzmasken wurden erst als unwirksam deklariert, kurze Zeit später angeordnet. Vom schnellen Ende der Pandemie durch eine No-Covid-Strategie, „Herdenimmunität“ oder „Herausimpfen“ spricht niemand mehr.

Einer der Gründe für die Fehlprognosen ist die unsichere Datenbasis. Nicht aktualisierte Inzidenzzahlen, deren Abhängigkeit von der Testzahl, die Dunkelziffer durch Ungetestete, mangelnde Differenzierung von Hospitalisierungen und Todesfällen mit oder durch Covid-19, lange Nachmeldezeiten und die unterschiedlichen Virusvarianten lassen valide Prognosen zu einem wahren Kunststück werden. Gleiches gilt für die Lockdown-Beurteilung: Zur Abschätzung von Kontakt- und Mobilitätseinschränkungen benötigt man Detailinformationen über Bevölkerungsgröße und -dichte, Alter, Verkehrsverbindungen, Umfang der sozialen Netzwerke sowie der Gesundheitsversorgung, um Regionen oder Länder virtuell darstellen zu können. Daraus werden mittels Differentialgleichungen die Folgen konkreter Maßnahmen abgeschätzt. Wie heikel das ist, illustrierten John Ioannidis und Eran Bendavid. Die Wissenschaftler der Stanford University untersuchten die Lockdown-Maßnahmen in unterschiedlichen Ländern (European Journal of Clinical Investigation Vol. 51, 4/21), und sie kamen zu dem Schluß: „Wir brauchen keine drakonischen Maßnahmen. Sie bringen keinen zusätzlichen Nutzen. Social Distancing, Masken, die Vermeidung von Menschenansammlungen, Hygieneregeln, all das ist sehr sinnvoll. Darüber hinaus muß man die Risikogruppen schützen, sonst kommt es zu einem Massaker. Schließlich handelt es sich um ein neues Virus, es gibt in der Bevölkerung keine oder kaum Immunität dagegen.“

Unterschätzte Nebenwirkungen der Infektionsschutzmaßnahmen

Bei dieser Pandemie hat die globale Befolgung unsicherer Prognosen das Leben von Milliarden Menschen beeinflußt. Die direkten Folgen einer Sars-CoV-2-Infektion oder Covid-19-Erkrankung sind beispielsweise für Schüler meist gering. Schwere Krankheitsverläufe mit zusätzlichen Entzündungen (PIMS, MIS-C) und Todesfälle treten selten auf. Dennoch gab es Schulschließungen für Milliarden von Kindern. Bei älteren Menschen in Afrika sind Erkrankungszahlen und Todesfälle – anders als prognostiziert – relativ niedrig. In reichen Staaten wie Deutschland gab es verschobene Operationen und Vorsorgeuntersuchungen. In armen Ländern wurden Geburtshilfe, Gesundheits- und Impfprogramme erschwert – und das führt zu mehr Fällen von Krankheiten, Totgeburten und dem Aussetzen der Malaria-, Aids- und TBC-Programme.

Die Übernahme der Lockdown-Maßnahmen ließ die Einkommensquellen von zig Millionen Tagelöhnern versiegen. Vom UN-Ernährungsprogramm WFP wird geschätzt, daß sich die Zahl der akut vom Hungertod bedrohten Menschen von 130 auf 265 Millionen verdoppeln wird. Die ökonomischen Folgen der Corona-Maßnahmen summieren sich in den großen Industrieländern auf jeweils dreistellige Milliardensummen, die öffentliche Verschuldung stieg auf Rekordniveau. Eine ehrliche Aufarbeitung dessen, was das alles gebracht hat, wird – je nach zeitlicher Distanz und politischem Nutzen – die Epidemiologen dann zu Helden oder zu Prügelknaben machen.

Weltweite Zahlen der Johns Hopkins University: coronavirus.jhu.edu

Covid-19-Dashboard des RKI: corona.rki.de

Foto: Leeres Klassenzimmer: Welche positiven und negativen Auswirkungen hatten die Lockdowns?