© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Brüsseler Freiheit
Genesenenstatus: Warum stimmt die Bundesregierung einer europäischen Regelung zu, die sie in Deutschland verwehrt?
Börn Harms

Hat die über Nacht veränderte Laufzeit des Genesenenstatus von sechs auf drei Monate vielleicht selbst keine lange Laufzeit? Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages wirft neue Fragen nach der Rechtsgrundlage für die Entscheidung auf. Ob die Kompetenzausweitung für das Robert-Koch-Instituts (RKI) tatsächlich verfassungsgemäß war, daran haben die Juristen so ihre Zweifel. Zur Erinnerung: Laut der von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Corona-Verordnung definiert künftig allein das RKI, wie lange der Genesenenstatus gilt. Per Mausklick wird auf der Internetseite verkündet, wer in Deutschland wie lange als genesen gilt.

Die sogenannte Wesentlichkeitslehre aber fordere, daß der Gesetzgeber „staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen durch ein förmliches Gesetz legitimieren und alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen“ müsse, heißt es nun im Bundestagsgutachten, das der AfD-Abgeordete René Springer in Auftrag gegeben hatte. Eine Auslagerung an die Exekutive sei nicht vorgesehen. Die erfolgte Reglung der Immunitätsnachweise mittels Rechtsverordnung sei „kritisch zu bewerten“. Zwar könne jene Gesetzgebungstechnik „grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig sein“. Doch der bloße Verweis „auf eine Internetseite“ erscheine „aus verschiedenen Gründen problematisch“. Es sei zweifelhaft, ob dies dem „Verkündungsgebot nach Art. 82 Abs.1 GG und dem Bestimmtheitsgebot nach Ar. 20 Abs. 3“ genüge. Ähnlich hatte bereits der Staatsrechtler Dietrich Murswiek in der JUNGEN FREIHEIT argumentiert.

Nicht der einzige Dämpfer für Gesundheitsminister Karl Lauerbach (SPD): Am Montag forderten in einer Schalte der Gesundheitsministerkonferenz alle 16 Bundesländer, die Verordnungsänderung rückgängig zu machen, also RKI und PEI die Entscheidungsmacht über den Impf- und Genesenenstatus wieder zu entziehen. Doch den verkürzten Genesenenstatus wollen auch sie nicht auf die alte Zeitspanne von sechs Monaten anheben. Mit 10:6 Stimmen votierten sie am Montag dagegen, nicht etwa aus wissenschaftlichten Gründen, sondern weil keine weitere Verwirrung gestiftet werden solle, berichtet die Bild-Zeitung. 

Mittlerweile hat die pikante Angelegenheit auch die Gerichte erreicht. Am Sonntag reichte die Mainzer Rechtsanwältin Jessica Hamed für mehrere Mandanten einen Eilantrag gegen die Verkürzung des Genesenenstatus von sechs Monaten auf 90 Tage ein. Zwei Tage zuvor hatte sie bereits die Aberkennung des Geimpftenstatus für einmal mit Johnson & Johnson Geimpfte gerichtlich angefochten. In beiden Fällen entscheidet nun das Verwaltungsgericht Berlin. Einsicht zeigt Gesundheitsminister Lauterbach bislang nicht. Auch über die interne Kommunikation zur Entscheidung schweigt man sich weiter aus. Es bleibt unklar, weshalb Lauterbach in der Bild-Zeitung erklärte, daß er die Informationen zur Änderung des Genesenenstatus durch das RKI erst nach seiner Ansprache im Bundesrat (14. Januar) durch das RKI erhalten habe, während seine Staatssekretärin Sabine Dittmar bereits am 13. Januar im Bundestag davon gesprochen hatte, daß „der Genesenenstatus künftig nach drei Monaten bzw. 90 Tagen entfallen“ würde. Sprechen die beiden nicht miteinander?

Gegenüber der jungen freiheit beteuert das Gesundheitsministerium (BMG): „Weder Frau Dittmar, noch dem Minister war zum Zeitpunkt der Reden im Bundestag (Dittmar) und im Bundesrat einen Tag später (Lauterbach) bekannt, daß der Genesenenstatus (…) bereits zum 15. Januar geändert werden würde.“ Die Verwirrung in den Behörden sei auf „Kommunikationsprobleme zwischen RKI und BMG sowie innerhalb des BMG“ zurückzuführen.

Seit Dienstag gilt zumindest in der Europäischen Union eine andere Empfehlung. Laut Beschluß des Europäischen Rats sollen künftig Corona-Infizierte EU-weit einheitlich sechs Monate lang als genesen gelten. Die 27 EU-Staaten wollen damit „ein koordiniertes Vorgehen in Sachen Impf-, Test- oder Genesenenstatus bei Reisen“ ermöglichen. Bei seiner Entscheidung berief sich der Europäische Rat auf die wissenschaftlichen Empfehlungen der WHO, „wonach vollständig geimpfte sowie in den sechs Monaten vor Reiseantritt von Covid-19 genesene Reisende keinen weiteren Beschränkungen unterliegen sollten“. Personen, die in keine dieser beiden Kategorien fallen, müßten „grundsätzlich mit einem negativen Sars-CoV-2-Testergebnis reisen dürfen“. 

Entscheidung in Brüssel  ist ein deutlicher Fingerzeig

Offenbar hat die WHO also andere wissenschaftliche Quellen als das Robert-Koch-Institut. Wenngleich das RKI gegenüber der JF zumindest für die Omikron-Infizierten ganz offen zugibt, keine wissenschaftlich validen Aussagen treffen zu können: „Über das Ausmaß und die Dauer des Schutzes nach einer Infektion mit der Omikronvariante liegen aktuell noch keine Daten vor, weder in bezug auf die Verhinderung einer Reinfektion mit der Omikronvariante noch mit der einer Reinfektion mit einer Deltavariante.“

Zwar ist die Entscheidung des Europäischen Rats kein rechtsverbindliches Instrument, aber dennoch ein deutlicher Fingerzeig. Merkwürdig ist außerdem: Im Europäischen Rat sitzen bekanntlich die 27 Regierungschefs der einzelnen EU-Staaten und somit auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Warum stimmt er einer 180-Tage-Empfehlung zu, die dem Robert-Koch-Institut mit ihrer 90-Tage-Regel deutlich widerspricht?

Angesichts der EU-Erkenntnise findet sich nun plötzlich auch der einstige Hardliner Markus Söder auf der Maßnahmenkritikerseite wieder: Gegenüber der Bild-Zeitung forderte Bayerns Ministerpräsident, daß die Verkürzung des Genesenenstatus wieder rückgängig gemacht wird. „Die EU einigt sich mit Zustimmung Deutschlands nun auf eine Dauer von sechs Monaten, in Deutschland hingegen wurde der Genesenenstatus über Nacht auf drei Monate verkürzt. Das paßt nicht zusammen.“ Wie so vieles seit Beginn der Corona-Krise.

Foto: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD): Bislang zeigt er keine Einsicht bei der Diskussion um die Verkürzung des Genesenenstatus