© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Scholz’ vergessene Vergangenheit
Jörg Kürschner

Wortkarg wie stets seit seiner Wahl zum Bundeskanzler hat Olaf Scholz auf Berichte reagiert, er sei als Juso-Funktionär in den achtziger Jahren vom DDR-Staatssicherheitsdienst ausgeforscht worden. „Natürlich kenne ich die Tatsache, daß ich bespitzelt worden bin. Das ist nicht schön, aber so ist es eben.“ Dabei ist der SPD-Politiker gar nicht ausspioniert worden, wie die Recherchen des Historikers Hubertus Knabe ergeben haben. So kurz angebunden war Scholz nicht immer. Die DDR-Machthaber erlebten in den achtziger Jahren einen überaus gesprächigen SPD-Nachwuchspolitiker.

Herausgekommen ist durch die bisher unveröffentlichten Akten des Bundesarchivs, daß Scholz ein gesuchter und häufiger Gast der SED-Spitze war. Immerhin neunmal ist der Vizechef der Jusos zwischen 1983 und 1988 nach Ost-Berlin gereist, hat dort mit ZK-Sekretär Egon Krenz gesprochen, ist auf öffentlichen Veranstaltungen als Redner aufgetreten und hat an einem von der FDJ organisierten „Internationalen Jugendlager“ teilgenommen. Hauptthema war der Nato-Beschluß, in Westeuropa US-Mittelstreckenraketen als Antwort auf die SS-20-Raketen der Sowjetunion zu stationieren. Treibende Kraft war Ende der siebziger Jahre Kanzler Helmut Schmidt, Scholz’ Parteichef, dem die SPD 1983 auf einem Parteitag jede Unterstützung für seine robuste Politik gegenüber Moskau entzogen hatte. Ein Jahr zuvor war Schmidt von dem CDU-Politiker Helmut Kohl durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gestürzt worden, der unbeirrt von innenpolitischen Protesten die Sicherheitspolitik seines Vorgängers fortsetzte. 

In den Anfangsjahren der Ära Kohl betrieb die SPD eine Art „Nebenaußenpolitik“, die zur Aufgabe zentraler deutschlandpolitischer Positionen geführt hatte. Die SPD setzte auf die Reformfähigkeit der DDR und erarbeitete mit der SED ein Dialogpapier. SPD-Ministerpräsidenten strichen die Zuschüsse für die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter, die die Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze zum Zweck einer Strafverfolgung registrierte. Die Anerkennung einer DDR-Staatsbürgerschaft war plötzlich kein Tabu mehr. In diesem Umfeld hat der Juso-Funktionär Scholz agiert, sich 1984 in einer gemeinsamen Presseerklärung mit der FDJ „für den sofortigen Stationierungsstopp und den Abzug der bisher aufgestellten US-Erstschlagwaffen“ eingesetzt. 

Mit Beginn der Massenfluchten aus der DDR in die Bundesrepublik geriet die SPD-Politik des „Wandels durch Annäherung“ ins historische Abseits. Auf einmal war von einem „Wandel durch Abstand“ die Rede. Bald 40 Jahre später muß der heutige Kanzler die Dokumente über seinen DDR-Schmusekurs nicht mehr fürchten. Der 63jährige kennt die Kurzlebigkeit des Politikbetriebs, kann sich seine Einsilbigkeit leisten. Im Berliner Regierungsviertel blieben die Berichte über seine Juso-Vergangenheit ohne Resonanz. Selbst bei der Union, die das Dialogpapier einst als „erbärmliches Machwerk“ (Helmut Kohl) bezeichnet hatte. Und auch die Medien nahmen von der „Akte Scholz“ kaum Notiz.