© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Das Verhängnis hatte einen Anfang
30 Jahre Maastricht-Vertrag: Die Gründungsakte der EU brachte die Einheitswährung Euro / Die Warner sollten in allem recht behalten
Bruno Bandulet

Es gibt gute Verträge und solche, die Verlierer und Gewinner hinterlassen, und dann gibt es Verträge, von denen sich später herausstellt, daß sie allen schaden, wenn auch auf verschiedene Weise. Ob der Vertrag von Maastricht in die zweite oder dritte Kategorie fällt, muß sich erst noch herausstellen.

Beschlossen wurde das Abkommen im Dezember 1991 im niederländischen Grenzort Maastricht, unterzeichnet wurde es eben dort am 7. Februar 1992, von deutscher Seite von Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Finanzminister Theo Waigel. Der Vertrag bezweckte eine „neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer enger werdenden Union der Völker Europas“. Ob das gelang, liegt im Auge des Betrachters – jedenfalls resultierte er in einem Umsturz der Geldordnung im integrierten Teil Europas und in einer Verschiebung der Machtverhältnisse zu Lasten Deutschlands.

Die Europäischen Gemeinschaften (EG) wurden nun Teil der in Maastricht gegründeten Europäischen Union (EU). Während Binnenmarkt, Zollunion und gemeinsame Handelspolitik bis heute funktionieren, blieb das Versprechen einer „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) auf dem Papier. Die auf 27 Mitglieder erweiterte EU ist weit davon entfernt, den Großmächten dieser Welt auf Augenhöhe begegnen zu können. In der Außenpolitik bricht immer wieder Dissens auf. Die EU ist militärisch und sicherheitspolitisch kein ebenbürtiger Spieler und wie vor 30 Jahren abhängig von den USA. Die politische Union blieb ein Wunschtraum, weil außer Deutschland alle größeren europäischen Staaten am Prinzip der nationalen Souveränität festhielten und nur dann an einem Strang ziehen, wenn es ihren Interessen entspricht.

„Der Euro wird kommen, aber er wird keinen Bestand haben“

Klar gescheitert ist das damalige Vorhaben einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik, nachdem die deutsche Bundeskanzlerin 2015 einseitig und unter Mißachtung deutschen und europäischen Rechts die Grenzen öffnete. Seitdem wird darüber gestritten, wer wie viele Migranten aufnimmt. Die meisten finden den Weg nach Deutschland, angelockt durch üppige Sozialleistungen. Nur in die USA strömen mehr Menschen aus der Dritten Welt als nach Deutschland.

Kernstück des Vertrages von Maastricht und in Deutschland umstrittener als anderswo war die Wirtschafts- und Währungsunion und damit die Schaffung einer europäischen Einheitswährung. Sie sollte damals noch European Currency Unit (ECU) heißen, was Theo Waigel nicht gefiel. Den ECU gab es bereits als Buchgeld im sogenannten Europäischen Währungssystem (EWS) und in Form von ECU-Anleihen, in die der Anleger investieren konnte. Nach eigenen Angaben zermarterte sich Waigel den Kopf und kam auf das Kunstwort Euro. Auf dem EU-Gipfel in Madrid im Dezember 1995 konnte er sich damit durchsetzen.

Daß die Europawährung realisierbar sein würde, war auch nach der Vertragsunterzeichnung zunächst unsicher. Gleich nach Maastricht unterschrieben 62 deutsche Wirtschaftswissenschaftler das Manifest „Eine Gefahr für Europa“. Bis zum Euro-Start am 1. Januar 1999 wiederholten sich die Warnungen der Ökonomen, darunter prominente Namen wie Joachim Starbatty, Wilhelm Hankel und Wilhelm Nölling. 1994 gründete Manfred Brunner den Bund Freier Bürger, um die D-Mark zu retten. Bereits am 12. Oktober 1993 erwirkte Brunner in Karlsruhe ein wegweisendes Urteil zum Maastricht-Vertrag, das immerhin der Bundesrepublik die Option einräumte, als Ultima ratio aus dem Vertrag wieder auszutreten. Bei den Wahlen blieb der BFB erfolglos. Mit der Konferenz von Madrid begannen sich die Finanzmärkte ernsthaft darauf einzustellen, daß der Euro tatsächlich eingeführt werden würde. Der amerikanische Notenbankchef Alan Greenspan prophezeite: „Der Euro wird kommen, aber er wird keinen Bestand haben.“

Waigel und Kohl glaubten oder erweckten den Anschein, den Euro mit den im Vertrag festgeschriebenen Konvergenzkriterien auf ein solides Fundament gestellt zu haben. Das jährliche Budgetdefizit sollte auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die staatliche Schuldenquote auf 60 Prozent des BIP begrenzt werden. Bei einem unterstellten Wirtschaftswachstum von drei Prozent wäre damit eine Überschuldung ausgeschlossen gewesen. Außerdem garantierte der Vertrag die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank von der Politik. Er schloß die Vergemeinschaftung von Schulden ebenso kategorisch aus wie deren Finanzierung durch die Europäische Zentralbank (EZB). So hätte das Experiment gelingen können. So wäre die EZB in die Fußstapfen der in Maastricht entmachteten Deutschen Bundesbank getreten.

So und nicht anders wurde es den Deutschen verkauft. Am 12. Februar 1992 versprach Waigel in Kiel: „Müssen wir die Deutsche Mark opfern, wie vielfach behauptet wird? Die klare Antwort ist: Nein!“ Und am 2. Dezember 1992 beschloß der Gesetzgeber: „Der Deutsche Bundestag wird sich jedem Versuch widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die im Maastrichter Vertrag vereinbart worden sind.“ Versprochen, gebrochen.

Im Ausland sah man das etwas anders. Am 18. September 1992 schrieb Chefredakteur Franz-Olivier Giesbert im Figaro: „Deutschland wird zahlen, sagte man in den zwanziger Jahren. Heute zahlt es: Maastricht, das ist der Versailler Vertrag ohne Krieg.“ Und William Rees-Mogg prognostizierte in der Times vom 16. Dezember 1996, was sich längst bestätigt hat: „Der Euro wird keine germanische und unabhängige Währung sein, sondern eine lateinische und eine politisierte – weniger ein Ersatz für die Deutsche Mark als ein Ersatz für den Franc.“ Weil es so kam, haben 2011 Bundesbankpräsident Axel Weber und EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark und im vergangenen Herbst Jens Weidmann das Handtuch geworfen. Sie konnten sich nicht durchsetzen, weil die Rückendeckung aus Berlin fehlte.

Europäische Währungspolitik fiel unter die Kontrolle Paris’ und Roms

Daß die EZB und mit ihr die europäische Währungspolitik unter die Kontrolle Frankreichs und Italiens fallen würden, war von Anfang an vorgezeichnet. Schon die Vorarbeiten, die auf den EU-Gipfel in Hannover 1988 zurückgingen, lagen in der Hand des französischen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors und seines italienischen Mitarbeiters Tommaso Padoa-Schioppa, der einen Drei-Stufen-Plan für die Europawährung vorlegte, gegen den Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl vergebens opponierte.

Und in Maastricht trafen sich der französische Präsident François Mitterrand und der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti am Sonntagabend, dem 8. Dezember 1991, noch vor dem offiziellen Beginn der ersten Konferenz in einem außerhalb der Stadt gelegenen Hotel, um zu konspirieren. Sie einigten sich darauf, die strengen deutschen Vertragsbedingungen pro forma zu akzeptieren und dafür von den Deutschen die Verpflichtung zu verlangen, automatisch und unwiderruflich spätestens 1999 mit der Währungsunion zu beginnen. Sie hatten nie ernsthaft vor, sich von ihrer laxen Geldkultur zu verabschieden und die der Bundesbank zu übernehmen. Im Krisenfall würde die EZB tun, was auch die Banca d’Italia und die Banque de France getan hätten. Genau dafür wurden Mario Draghi, ein früherer Goldman-Sachs-Banker, und die eher unerfahrene Nachfolgerin Christine Lagarde installiert.

Der Rest ist bekannt: Eurokrise seit 2010, ein Rettungsschirm nach dem anderen, Einstieg der EZB in die Staatsfinanzierung, Null- und Negativzinsen, Enteignung der Sparer, Einstieg der EU in die Schuldenunion im Jahr 2020 mit dem 750-Milliarden-Wiederaufbaufonds, Target2-Forderungen der Bundesbank von zuletzt über 1,1 Billionen Euro, die nichts anderes als einen Überziehungskredit an Südeuropa darstellen. „Um die deutschen Ängste vor dem vereinigten Europa zu beschreiben“, urteilte die Neue Zürcher Zeitung am 25. Juli 2020, „genügt ein einziges Wort: Zahlmeister.“

Unterdessen sind die Schulden Südeuropas und auch Frankreichs auf das Doppelte oder mehr der Obergrenze von 60 Prozent angeschwollen. Inzwischen hat die hochinflationäre Bilanzsumme des Eurosystems, die noch vor zwei Jahren unter fünf Billionen lag, die Marke von acht Billionen Euro überschritten. Gibt es einen Ausweg? Muß sich Deutschland ad infinitum erpressen lassen? Nein, meinte Professor Stefan Kooths, Co-Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und Vorsitzender der Hayek-Gesellschaft im Handelsblatt vom 30. Dezember 2021: „Die Bundesregierung müßte aber auch klarmachen, daß der Euro für Deutschland nicht alternativlos ist.“





Zeitleiste

7. Februar 1992: Vertrag über die Europäische Union in Maastricht (Niederlande) unterzeichnet; am 1. November 1993 in Kraft getreten

Juni 1992: 60 renommierte Ökonomen warnen in dem Manifest „Die währungspolitischen Beschlüsse von Maastricht: Eine Gefahr für Eu­ropa“ vor den Folgen des Vertragswerks. Vorbedingung für eine Währungsunion müsse die Angleichung der Wirtschaftsstrukturen sein. Für einige wenig wettbewerbsfähige Staaten würden Transferzahlungen nötig werden

1998: 160 eurokritische Ökonomie-Professoren versuchen mit einer Stellungnahme, den Beginn der Währungsunion zu verschieben. Diese wie vorherige Kritik wird von Berlin ignoriert

1. Januar 1999: Einführung des Euro als Buchgeld in elf EU-Ländern, ab 2002 als gesetzliches Zahlungsmittel

1. Januar 2001: Griechenland erschleicht sich mit manipulierten Haushaltszahlen den Beitritt zur Eurozone. Enormer Kapitalzufluß in Euro-Randstaaten erzeugt Aufschwung

Ab August 2007: Weltfinanzkrise; Verbindung von Bankenkrise und Staatsschuldenkrise

Ab 2009: Beginn der Eurokrise; Griechenland und Spanien am Rande der Pleite

Mai 2010: Beginn der Griechenland-Rettung mit Einrichtung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)

7. Mai 2010: Die Ökonomen Wilhelm Hankel, Karl Albrecht Schachtschneider, Joachim Starbatty u.a. reichen gegen den Milliardenkredit für die Griechenland-Hilfe Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein – erfolglos

Entgegen dem mit dem Vertrag von Maastricht besonders den Deutschen suggerierten No-Bailout-Prinzip (keine gemeinsame Haftung für Schulden anderer Staaten) fließen seit 2010 umfangreiche Hilfskredite, um die angeschlagenen Euro-Mitgliedstaaten zu stabilisieren

Fotos: Außenminister Hans-Dietrich Genscher (l.) und Finanzminister Theo Waigel (r.) unterzeichnen am 7. Februar 1992 den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht: „Müssen wir die Deutsche Mark opfern?“; Der Vertrag von Maastricht im Museum in Bonn: Anders als abgemacht, gibt es eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik bis heute nicht; Bundeskanzler Helmut Kohl, der italienische Ministerpräsident Andreotti und der französische Präsident Mitterrand in Rom, Dezember 1990 (v.l.n.r.): Vor Vertragsschluß trafen sich der Italiener und der Franzose und konspirierten gegen Deutschland