© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Einen Krieg will keiner
Ost-West-Konflikt um die Ukraine: Säbelrasseln und geheime Diplomatengespräche
Paul Leonhard

Das Gebot der Stunde faßt Großbritanniens Premier Boris Johnson in wenigen Worten zusammen: die Truppen an der Nato-Grenze verdoppeln und die Beziehungen zu Rußland verbessern. Und beides findet statt. Die Briten stocken ihr Kontingent in Estland von 900 auf 1.800 Soldaten auf – während die Russen mit geschätzt 130.000 Bewaffneten nahe ihrer Westgrenze und in Weißrußland stationieren. Darunter Einheiten aus dem Fernen Osten.

Trotzdem versichert Moskau, daß keine Absicht bestehe, die Grenze zur Ukraine zu überschreiten. Und seitens der Nato droht zwar deren Generalsekretär Jens Stoltenberg, man prüfe die Entsendung zusätzlicher Kampfeinheiten in die Schwarzmeerregion, versichert aber andererseits, es würden keine Nato-Gefechtstruppen in der Ukraine stationiert, und selbst im Falle eines russischen Einmarsches werde es keinen Nato-Kriegseinsatz zur Entlastung der Ukraine geben.

Trotz allen Säbelrasselns wird hinter verschlossenen Türen eifrig verhandelt. Und wenn Diplomaten das Sagen haben, kommt es in Verlautbarungen auf einzelne Worte an. So spricht US-Außenminister Anthony Blinken plötzlich von einem „ernsthaften“ diplomatischen Weg, den Washington den Russen in seiner schriftlichen Antwort auf die geforderten Sicherheitsgarantien aufgezeigt habe. Um was es dabei geht, ist geheim: Diplomatie habe die besten Erfolgsaussichten bei vertraulichen Verhandlungen, und „wir hoffen und erwarten, daß Rußland denselben Standpunkt vertritt und unseren Vorschlag ernst nimmt“.

Aber welche Gestaltungsspielräume will man den Russen einräumen, wenn die USA und ihre Verbündeten weiterhin das Recht der Staaten garantieren, ihre Sicherheitsmaßnahmen und Bündnisse zu wählen? Wie könnte eine neue Sicherheitskooperation zwischen der Nato und Rußland aussehen?

Kiew: Die Destabilisierung der Ukraine verhindern

Rußlands Außenminister Sergej Lawrow bezeichnet die Antwort der Vereinigten Staaten  auf die russischen Vorschläge als „geradezu ein Musterbeispiel diplomatischen Anstands“, während das Nato-Schreiben „hochgradig ideologisiert“ gewesen sei. Gibt es also zwei Schreiben, statt eines einheitlichen, zwischen den Nato-Verbündeten abgestimmten? Alles, was die westlichen Antworten an konstruktiven Punkten enthielten, habe Russland schon vor Jahren vorgeschlagen, erinnert Lawrow.

Auf die Nato-Doktrin der „offenen Tür für alle“ kontern die Russen mit der Charta von Istanbul, 1999 auf Ebene der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterschrieben und 2010 noch einmal beglaubigt. In dieser ist zwar das Prinzip der freien Bündniswahl festgeschrieben, aber auch, daß kein Land seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer vorantreiben dürfe. Er sei gespannt, wie sich die Nato herausreden werde, ließ Lawrow verlauten, der auch von der OSZE eine Positionierung verlangt.

Rußlands Präsident Wladimir Putin mahnte in einem Telefongespräch mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, daß sich Kiew strikt an die Vereinbarungen von Minsk und andere Abkommen halten müsse, die auf einen direkten Dialog mit Donezk und Lugansk und die Formalisierung ihres Sonderstatus abzielen. Zuvor soll es ein Gespräch von US-Präsident Joe Biden mit dem ukrainischen Staatschef Wolodimir Selenskij gegeben haben, bei dem der Amerikaner „laut geworden“ sein soll. 

Umgehend zog der Ex-Komiker einen Gesetzentwurf zurück, der die Bewohner der „Volksrepubliken“ des Donbass diskriminiert und den Vereinbarungen von Minsk widersprochen hätte. Selenskij dürfte noch von Bidens Aussage schockiert gewesen sein, als dieser auf einer Pressekonferenz in Washington zwischen „geringfügigem Eindringen“ und Einmarsch unterschied.

Während die kanadische Verteidigungsministerin Anita Anand schon einmal die kanadischen Truppen in Stärke von sage und schreibe 200 Mann in Gebiete westlich des Flusses Dnepr zurückbeordert hat, verweisen Sicherheitsexperten wie der frühere Fallschirmjäger-Oberst Wolfgang Richter, Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, auf die durch Nato-Militärhilfe gut ausgebildete und mit westlichen Panzerabwehrwaffen und  türkischen Kampfdrohnen modern ausgerüstete ukrainische Armee, immerhin mit 250.000 Soldaten und 900.000 gut ausgebildeten Reservisten die drittstärkste Europas. 

Selenskij scheint das ähnlich zu empfinden: „Das Hauptrisiko für die Ukraine und deren Souveränität sei eine Destabilisierung innerhalb des Landes.“

Foto: Soldaten der selbsternannten Volksrepublik Donezk in der östlichen Ukraine: Die große Politik spielt fernab in Moskau und Washington