© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Drohende Flaschenhals-Rezession
Mangelwaren: Ifo-Institut warnt vor einer Renationalisierung von Lieferketten / Käufer fragen nach CO2-Abdruck von Waren
Paul Leonhard

Die Geschichte vom T-Shirt, das eine 18.000-Kilometer-Reise absolviert, bis es im Laden liegt, erzählt Andreas Schmidt, Geschäftsführer von Fraas, neuerdings gern. In Wüstenselbitz (Landkreis Hof) produziert seine Firma mit mehr als 30 Webstühlen Tücher und Schals für Textilketten. Und die 150 Mitarbeiter profitieren vom coronabedingten Zusammenbruch der globalen Lieferketten. „Made in Germany“ sei wieder gefragt: „Die junge Generation interessiert, wo ein Produkt hergestellt wird und welchen CO2-Abdruck es hat.“ Und der der Textilien aus dem Vogtland soll möglichst flach sein.

Regionale Lieferketten sollen zudem helfen, die Fertigung unabhängig von Pandemien, Naturkatastrophen oder Revolutionen in fernen Ländern zu machen – egal, ob es um Mikrochips für VW (JF 3/22) oder Baustahl geht. Die Industrie- und Handelskammer Schwaben beklagt sogar Produktionsstopps, weil Nieten, Reißverschlüsse oder Kragenstoff bei den Textilherstellern fehlen. In anderen Branchen sind es Fahrradteile, Elektrogeräte, Leuchten, Joggingschuhe oder Wanderstiefel. Das mag verschmerzbar sein, das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) warnt aber auch vor Engpässen bei Impfstoffen gegen Diphterie und Tetanus bei Kleinkindern.

Es sei daher nicht verwunderlich, daß die Rufe nach einer Renationalisierung von Lieferketten lauter werden, notfalls auch durch direkte staatliche Interventionen, schreiben Andreas Baur und Lisandra Flach (LMU München) im aktuellen Ifo-Schnelldienst (1/22), der sich den „Strategien gegen die Flaschenhals-Rezession“ widmet. Doch ein Teil des deutschen Wohlstands sei globalen Wertschöpfungsketten zu verdanken. Billige Vorprodukte ermöglichten deutschen Firmen große Produktivitätsgewinne. Aber muß dies nun mit zerbrochenen globalen Lieferketten und wirtschaftlicher Instabilität teuer bezahlt werden? Nein, entgegen allen Prognosen zeige sich der weltweite Güterhandel im Verlauf der Pandemie überaus resistent. So übertraf im Oktober 2020 das globale Handelsniveau das Niveau der Vorpandemie und lag im Oktober 2021 saisonbereinigt sechs Prozent über dem vom Dezember 2019. Selbst der Containerumschlag erreichte bereits im Sommer 2020 wieder ein Vorkrisenniveau und übertraf im November 2021 dieses um mehr als zehn Prozent. Woran hakt es aber dann, wenn Fließbänder stillstehen und Regale leer bleiben? Jedenfalls nicht an einer massiven Störung des Welthandels. Auch sei ein „systematischer Zusammenhang zwischen der Abhängigkeit von ausländischen Vorprodukten und der geplanten Änderung von Lieferketten“ auf Branchenebene nicht zu erkennen, schreiben Baur und Flach. Die Probleme seien ein „durch die Pandemie hervorgerufenes Ungleichgewicht zwischen globaler Nachfrage und globalem Angebot“.

Auch deutsche Firmen leben von der Lieferung von Vorprodukten

Sprich: Plötzliche Massenbestellungen haben viele Lieferengpässe selbst hervorgerufen. Dennoch wollen 40 Prozent der deutschen Firmen im Verarbeitenden Gewerbe ihre Lieferbeziehungen verändern. Ein Viertel will sich zumindest teilweise von der Just-in-time-Produktion lösen und die Lagerhaltung erhöhen. Das ergab eine Befragung des Ifo-Instituts von mehr als 5.000 Unternehmen. Laut einer Umfrage des DIHK haben mehr als die Hälfte der deutschen Firmen an ihren internationalen Standorten ihre Bezugsketten neu justiert. Davon suchen 72 Prozent neue oder zusätzliche Lieferanten, 15 Prozent verlagern Teile der Produktion oder bauen neue Werke. Der Schrauben-Konzern Würth, der für 2021 ein Rekordergebnis vermeldete, sieht sich auf dem richtigen Weg: Daß 80 Prozent seiner Waren den Ursprung in Europa haben, gewährleiste eine „gewisse Unabhängigkeit von globalen Lieferketten“, erklärte Würth-Chef Robert Friedmann in der FAZ. Baur und Flach warnen dennoch: Eine Nationalisierung von Lieferketten würden zu einem Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um zehn Prozent führen. Derzeit beträgt der Wert inländischer Vorleistungen, die dann im Ausland weiterverarbeitet werden, mehr als 600 Milliarden Dollar. Deutschland steht damit hinter den USA und China auf Platz drei. Richtig interessant wird es aber, wenn die Bedeutung des Exports von Vorprodukten analysiert wird. Dieser beträgt für die USA und China sechs bzw. sieben Prozent des BIP, in Deutschland aber knapp 19 Prozent.

„Die Wohlfahrtsverluste, die eine Nationalisierung von Lieferketten für Deutschland mit sich bringen würde, sind also beachtlich“, so Baur und Flach. Überdies biete der internationale Handel für Unternehmen und Volkswirtschaften „eine Art Versicherungsfunktion gegenüber länderspezifischen Schocks“. Überdies bleibt die hohe Abhängigkeit Deutschlands von Rohstoffimporten bestehen. Aus Sicht von Baur und Flach wäre „viel gewonnen“, wenn die Handelsabkommen mit Kanada oder den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten zeitnah ratifiziert würden. Gleichzeitig fordern sie eine Harmonisierung von Ursprungsregeln und den Abbau unnötiger Zollbürokratie. Textilproduzent Schmidt glaubt aber an eine Trendwende: „Wir spüren im Moment ein massives Interesse unserer Kunden, die sich unabhängig machen wollen von den unflexiblen und teuren Lieferketten.“ Nicht der günstigste Preis stände im Vordergrund, sondern zunehmend die Nachhaltigkeit.

Ifo-Schnelldienst 1/22: www.ifo.de