© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Querdenker im Quadrat
Bürgerschreck: Zum 150. Geburtstag des deutsch-jüdischen Kulturphilosophen Theodor Lessing
Oliver Busch

Am 8. Februar 1872 als Sohn eines Arztes und einer Bankierstochter in Hannover geboren, entwickelte sich Theodor Lessing schon in der Schule zum fleischgewordenen Widerspruch zu seiner bürgerlich-saturierten Herkunftswelt. Dieser „Oppositionelle aus Prinzip“, wie ihn Rainer Marwedels bislang gründlichste Biographie (1987) präsentiert,  durchlief die verhaßte Penne mit angezogener Handbremse, blieb öfter sitzen und rutschte erst mit erheblicher Verspätung durchs Abitur. Das anschließende, auf Druck des Vaters absolvierte Medizinstudium hielt er zwar bis zur Promotion durch, versuchte dann jedoch sich eine Existenz als schriftstellernder Bohemien zu gründen. Das mißlang ihm zwar, aber eine endlose Folge von Federkriegen festigte seinen Ruf als Frondeur gegen den Geist der Zeit. 

Und behaftete ihn zugleich mit dem Odium des Querulanten, Winkelpamphletisten und Bürgerschrecks, der sich als Vorsitzender eines von ihm 1908 ins Leben gerufenen „Anti-Lärm-Vereins“ und als Redakteur von dessen Monatsschrift Der Anti-Rüpel. Recht auf Stille in den aussichtslosen Kampf gegen alle Spielarten industrieller Umweltverschmutzung stürzte. Den „Lärmprofessor“ zur lächerlichen Figur zu stempeln, fiel daher seinen zahlreichen Feinden, die er sich durch enthemmte Invektive nie scheuende Pamphlete gemacht hatte, nicht schwer. Als „benachteiligten Zwerg“, der sich als „Schreckbeispiel jüdischer Rasse durchs Leben duckt“, fertigte ihn, der längst aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten und zum Protestantismus konvertiert war, kein Geringerer als Thomas Mann ab. Der Privatdozent der Philosophie an einer „Maschinenbauanstalt“ – der an der Universität Göttingen gescheiterte Lessing hatte sich 1908 nur an der Technischen Hochschule Hannover habilitieren können – müsse schon froh sein, wenn auch ihm die Sonne scheine. 

Beobachter im Prozeß gegen den Massenmörder Fritz Haarmann

Obwohl als philosophischer Schriftsteller und journalistischer Begleiter der Tagespolitik bienenfleißig, provozierte Lessings Name erst Mitte der 1920er ein Echo außerhalb von Intellektuellenzirkeln – mit für ihn schließlich tödlichen Folgen. Im Sommer 1924 weckten Funde von Leichenteilen und Gerüchte, Hannovers Metzger würden Menschenfleisch verhökern, Lessings Aufmerksamkeit. Er berichtete darüber im Prager Tagblatt. Für diese Zeitung nahm er dann Ende 1924 auch als Beobachter an dem Prozeß gegen den homosexuellen Massenmörder Fritz Haarmann teil, der 1923/24 mindestens 27 junge Männer in seine Dachkammer gelockt, regelrecht geschlachtet, filetiert und im Abfall entsorgt hatte. Anders als das Heer der Kollegen von der Sensationspresse legte Lessing in seinen Reportagen keinen Wert auf diese gruselig-blutigen Details, sondern ließ sich von der Frage leiten: Was ist das für eine Gesellschaft, die so ein Monstrum hervorbringt? 

„Babylon“ spielte in den vermeintlichen „Goldenen Zwanzigern“ nicht exklusiv in der Reichshauptstadt Berlin. Sodom und Gomorrha waren auch im provinziellen Hannover möglich, wo Nachkriegselend und Inflation mit gleicher Wucht die kollektive Mentalität formten und ihr das Gefühl von der Flüchtigkeit aller Werte und der Relativität jeder sozialen Norm vermittelten. Haarmann war darum nur ein Symptom dieses Wertezerfalls. Der ließ sich am besten in dem von Lessing hell ausgeleuchteten Mikrokosmos „Klein Venedig“ studieren. Auf den ersten Blick ein Fachwerkidyll auf der Altstadt-Insel zwischen zwei Leine-Armen,  tatsächlich Hannovers Elends-, Verbrecher- und Rotlichtquartier. Dort vegetierten die Ärmsten der Armen  im Dreck mittelalterlicher Löcher. Für den Kleinkriminellen Haarmann jedoch deshalb ein ideales Biotop, weil sich der schrecklichere Wiedergänger Jack the Rippers hier im Schutz der Obrigkeit, der er als Polizeispitzel diente, wie ein Fisch im Wasser tummeln durfte.

Eine derart skandalöse Kumpanei der Hüter von Sicherheit und Ordnung führte dazu, daß der „Vampir“ erst dem Kommissar Zufall ins Netz ging – was Lessing als aberwitziges Behördenversagen anprangerte, dessen Ursprung er in der Verwaltungsspitze, bei Gustav Noske (SPD), dem Oberpräsidenten der preußischen Provinz Hannover lokalisierte. Von ihm in seinen Reportagen angerissen, von der KPD-Presse ausgewalzt, saß darum mit Haarmann ein korruptes „System“ auf der Anklagebank, das einen Lustmörder zum Polizeiagenten befördert hatte. Insofern konsequent entfernte sich Lessings Studie über „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ (1925) von der apolitisch-individualpsychologischen Ebene der Gerichtsgutachter, um in modernekritischer Absicht die atemberaubende sozialpathologische Dimension des Falles aufzuzeigen.

Im tschechischen Exil wurde er 1933 erschossen

Damit habe er, wie Julius H. Schoeps in einem Porträt des „ungeliebten Außenseiters“ festhielt („Juden in der Weimarer Republik“, 1986), ein großes geschichtsphilosophisches Rad gedreht. Weil es ihm anhand des Hannoveraner Horrors um den Nachweis ging, daß Zivilisation und Kultur nur einen dünnen Firnis bilden, unter dem häufig genug das Tiermenschentum durchbreche. „Sehen Sie, dieser Haarmann“, so erklärte Lessing es dem Strafverteidiger Erich Frey, „ist doch ein Rückfall in einen urmenschlichen Zustand. Der Wolfsmensch, der Blutsauger, der Kannibale – nur noch in unseren Sagen glaubt der Mensch von heute sie zu kennen. Und plötzlich ist er da. Wie? fragt sich der Kulturmensch. Raubtiere gibt es doch nur in der Wüste. Aber sehen Sie doch einmal hinaus in die Straßen dieser Stadt, aller Städte. Diese grauen elenden Steinkästen der Häuser, die Höhlenwohnungen, der Asphalt. Ist das etwa keine Wüste? Und so kahl wie in den Steinschluchten der Straßen, sieht es doch auch in der Seele der Menschen aus, die darin zu leben verdammt sind.“

Die im industriellen Zeitalter einsetzende „Entfremdung“ des Menschen von der angeblich seiner „Natur“ gemäßen Lebensweise – so lautet  der Schlüsselbegriff der Bibliotheken füllenden, „Vernunft zerstörenden“ (Georg Lukács) Werke der Kultur- und Zivilisationskritik zwischen 1871 und 1945. Auch Lessings geschichtsphilosophisches Hauptwerk, „Europa und Asien“ (1919), fällt darunter, weil der Imperialismus und Kolonialismus leidenschaftlich verdammende Autor die europäische Politik kapitalistischer Machtentfaltung und Naturausbeutung mit einem „irrationalistischen“ asiatischen Ideal der Harmonie zwischen Mensch und Natur kontrastiert.

Ungerührt von diesem Verdikt betont Schoeps in seiner kürzlich publizierten Studie über Lessing und den kulturzionistischen „Prager Kreis“ um Franz Kafka, Max Brod und Hugo Bergmann (Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 2/2021) vehement dessen Charakter als unvermindert aktuelle „Absage an die zerstörerischen Potentiale des abendländischen Kapitalismus“. Allerdings ohne zu erwähnen, daß der Autor darin die bereits 1913 vorgebrachte fundamentalistische Untergrabung neuzeitlicher „Fortschritts-Ideologie“ des Hannoveraner Jugendfreundes Ludwig Klages verwertet, wie der sie in seinem Opus magnum „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929–1932) entfaltet. 

Kurz nach dem Haarmann-Prozeß, und mit gleicher gesellschaftskritischer Verve, wandte sich Lessing Paul von Hindenburg zu, dem berühmtesten seiner Hannoveraner Mitbürger, um vor dessen anstehender Wahl zum Reichspräsidenten zu warnen. Damit entfachte er einen Empörungssturm in „nationalen Kreisen“, der ihn nach einer Flut von Drohungen und Boykottaktionen bewog, sein Lehramt aufzugeben. Ein in der deutschen Hochschulgeschichte bis dahin singulärer Fall des „von unten“, durch Studenten organisierten, erfolgreichen Angriffs auf die verfassungsrechtlich  garantierte Lehrfreiheit. Und ein frühes Musterbeispiel für „Cancel Culture“, wie sie sich heute ausbreitet. Man denke an die feministische Philosophin Kathleen Stock, die ein „Trans-Mob“ im Oktober 2021 zur Kündigung ihrer Professur an der Universität von Sussex zwang. 

Theodor Lessing erreichten die Ausläufer dieses Orkans des Hasses noch im tschechischen Exil. Am 30. August 1933 erschossen ihn sudetendeutsche Nationalsozialisten in Marienbad. Dort befindet sich auch sein Grabmal.

Foto: Theodor Lessing (1872–1933), Publizist und Philosoph, undatierte Aufnahme