© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Die Debatten im Deutschen Bundestag werden immer langweiliger. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bereits 2014. Danach hatten 28 Prozent der Westdeutschen „in den letzten Monaten“ vor der damaligen Erhebung mal einer Parlamentsdebatte im Radio oder Fernsehen zugehört; 1984 seien es 63 Prozent gewesen. Nun, meine letzte Erinnerung an eine Redeschlacht im Bundestag reicht auch schon dreißig Jahre zurück. Es war die sogenannte Hauptstadtdebatte am 20. Juni 1991, an deren Ende der Umzugsbeschluß von Regierung und Parlament nach Berlin stand. Seither haben mich Bundestagsdebatten mit ihren abgelesenen Reden in blasser Rhetorik vor halbleeren Rängen zunehmend angeödet. Erst in der vorigen Woche habe ich dann im Homeoffice wieder mal einer Fernsehübertragung aus dem Parlament gelauscht. Es ging um die Aussprache zu einer allgemeinen Corona-Impfpflicht. Vor allem interessierte mich der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki und seine klare unaufgeregte Argumentation in dieser Frage. O-Ton: „Ich möchte jedenfalls nicht, daß die Mehrheit für die Minderheit festlegt, was man als vernünftig anzusehen hat und was man nach Mehrheitsmeinung tun muß, um solidarisch zu sein. Denn wenn die Minderheit von der Mehrheit in grundrechtssensiblen Fragen unter Rückgriff auf eine höhere Moral einfach überstimmt wird, dann können wir nur hoffen, daß wir nie in die Verlegenheit kommen werden, Teil einer Minderheit zu sein.“

Kubicki hätte seiner Rede zur Impfpflicht noch eine Sentenz des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau hinzufügen können.

In Erinnerung gerufen: „Die Meinungsfreiheit muß nicht vor dem Halt machen, was dieser oder jener für heilig hält, und sie muß es nicht einmal berücksichtigen. Sie hat das Recht, Öl ins Feuer zu gießen. Es ist nicht ihre Aufgabe, den sozialen Zusammenhalt oder die nationale Einheit aufrechtzuerhalten; das Zusammenleben geht sie nichts an. Sie kann nicht dazu angehalten werden, sich verantwortlich zu zeigen; sie ist es nicht. Diese verschiedenen Punkte sind nicht verhandelbar.“ (Michel Houellebecq, Schriftsteller, in der Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles, 14. Januar 2015)


Apropos Impfpflicht und Wolfgang Kubicki: Der Bundestagsvizepräsident und stellvertretende FDP-Vorsitzende steht offenbar zu seinen Aussagen dazu vor der Bundestagswahl, womöglich im Gegensatz zu seinem Parteichef Christian Lindner, der in dieser Frage inzwischen ziemlich her-umeiert. Kubicki hätte seiner Rede in der Orientierungsdebatte im Parlament freilich noch eine Sentenz des aufklärerischen Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hinzufügen können: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muß, was er nicht will.“


Schon jetzt zur Lektüre vormerken: „Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“ von Kurt Krömer. Der Komiker mit dem Geburtsnamen Alexander Bojcan berichtet darin ebenso ehrlich wie unterhaltend über seine jahrzehntelange Depression. Die „Liebeserklärung an das Leben und die Kunst“ (Verlagswerbung) erscheint am 10. März bei Kiepenheuer & Witsch.