© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Glanz und Elend der Lahmen
Prosa: Mit „Die Säumigen“ setzt der Publizist Frank Böckelmann Nachlässigkeit und Unverbindlichkeit ein ironisches Denkmal
Dietmar Mehrens

Schüler kennen sie, Lehrer kennen sie, Hausfrauen mit Wäschebergen sowieso. Läufern begegnet sie vor allem, wenn draußen Regenwetter herrscht, und allen mit dem Stift in der Hand oder der Tastatur unter den Fingern, wenn eine Abgabefrist sich bedrohlich nähert. Wenn sie Macht über uns gewinnt, erkennen wir das daran, daß uns plötzlich alle möglichen sonst vorzugsweise verschmähten Nebensächlichkeiten wie Kloputzen, das Zimmer aufräumen, den Abwasch erledigen oder Staubsaugen in den Sinn kommen – alle mit der erhofften und unweigerlich sich einstellenden und dennoch völlig kontraproduktiven aufschiebenden Wirkung. 

Psychologen nennen sie „Vermeidungsstrategie“. Und Frank Böckelmann hat in seinen bislang achtzig Lebensjahren so viel mit ihr zu tun bekommen, daß er ihr jetzt ein ganzes Buch gewidmet hat: der Saumseligkeit in ihren diversen Erscheinungsformen. Als da wären (so jedenfalls nennt der Autor die einzelnen Kapitel seines Buches): „Der säumige Schüler“, „Der säumige Student“, „Die säumige Karrieristin“, „Säumige Liebhaber“ und „Säumige Autoren“.

Miniaturen voller Feinsinn und Wortwitz

Man merkt dem erfahrenen Publizisten, Herausgeber des zeitkritischen Tumult-Magazins, an, daß es vor allem die verlegerische Praxis ist, die ihn zu diesem Prosa-Band veranlaßte: In dem ersten, etwas umfangreicheren Beitrag „Die Säumigkeit der anderen“ schildert er aus der Sicht seines Alter ego Gabor Schmidt, wie verlassen ein Mensch, der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit zu seinen Grundtugenden zählt, sich fühlen kann, wenn er sich permanent auf andere verlassen muß. Fast zwangsläufig stellt sich der Gedanke an Sisyphos ein, Prototyp des sich fruchtlos Abplagenden. Schmidts frustrierendes Fazit: „Um jeden Zuverlässigen sammelten sich die Lebenszeitverschwender – jene, die quasselten, statt zu handeln, die das Wagnis durch dessen Ankündigung ersetzten [...].“

Ein solcher ist unverkennbar der junge Romancier Heinrich Bunz aus „Säumige Autoren“, ein Meister des leeren Versprechens. Seinem Verlag hat er die abenteuerliche Lebensgeschichte des „in Brasilien verschollenen“ Globetrotters Deirdre Robak samt einer verblüffenden Enthüllung zugesagt, fest zugesagt bis zum Jahresende. Ende Dezember teilt er mit, ein weiterer Monat sei für den akribischen Abschluß unerläßlich. Ende Januar telefoniert er mit seinem Verleger: Ein letztes Kapitel fehle noch. Mitte Februar wird der Verlag erneut auf später vertröstet. Die Hängepartie geht weiter, denn: „Seit acht Monaten litt Bunz unter der Angst vor chronischer Schreibhemmung.“ Wie Böckelmann seinen tragikomischen Helden in seiner Saumseligkeit seziert und auf wenigen Seiten mit fein dosierter Ironie Glanz und Elend des Vertröstungskünstlers skizziert, das ist einfach ein Vergnügen. 

Als scharfzüngiger Spötter erweist sich der gebürtige Dresdner auch in „Der säumige Student“. In groben Zügen umreißt er darin den Karriereweg des blasierten Bummelstudenten Dennis, der neben dem Studium für die Zeitschrift „Politischer Urbanismus“ tätig ist und vor allem deswegen durchkommt, weil er die richtige Überzeugung hat. Eine glänzende Satire auf das linke akademische Milieu, dem Deutschland Filterblasenprodukte wie Kevin Kühnert oder Annalena Baerbock verdankt.

Böckelmann hat sich bei seinem Debüt als Erzähler für die kunstvolle Form der Prosa-Miniatur entschieden. Seine kurzen Texte sind keine klassischen Kurzgeschichten. Eher überblickhaft und ohne in die Details zu gehen schildert er seine Fallbeispiele, dafür aber in präzisen Sätzen voller Feinsinn und Wortwitz, in einer herrlich altmodischen Sprache. Mancher Leser wird den Verzicht auf Nahaufnahmen bedauern, denn die vielen Konflikte, die sich aus der Kollision zwischen Erwartungshaltung und Ausflucht ergeben, haben ja durchaus das Zeug für handlungsintensive Einzel-szenen. Mit welcher Theatralik sich beispielsweise die Trennung zwischen dem „drahtigen Kulturdezernenten“ und der „eleganten Dokumentarfilm-Regisseurin“, den Helden der Geschichte „Das öffentliche Paar“, vollzog, ob es da womöglich Dialoge im Stil von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ gab, das bleibt dem Vorstellungsvermögen des Lesers überlassen. 

Abgerundet wird der Band durch den in Peter-Handke-Manier verfaßten Rätseltext „Das Unding“ über eine Begegnung mit Außerirdischen und eine Reihe selbstreflexiver Betrachtungen über das diskrete Dasein im Netzzeitalter unter der Überschrift „Was bin ich?“

Frank Böckelmann: Die Säumigen. Prosa. Edition Sonderwege/Manuscriptum, Lüding-hausen  2021, gebunden, 186 Seiten, 19 Euro