© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Wohin steuert das Kirchenschiff?
Dem emeritierten Papst Benedikt XVI. wird eine falsche Angabe zu seiner Teilnahme an einer Sitzung von 1980 vorgeworfen / In Wahrheit geht es darum, im Kulturkampf um die Zukunft der katholischen Kirche den Gegner zu diskreditieren
Dietmar Mehrens

Die Dinge kamen mal wieder zusammen wie von Maestro-Hand orchestriert: Zunächst wurde Ende der vergangenen Woche bekannt, daß der emeritierte Papst Benedikt XVI. trotz gegenteiliger Beteuerungen während seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising an einer Ordinariatssitzung teilgenommen hat, in der über den Umgang mit einem des Mißbrauchs beschuldigten Priester aus dem Bistum Essen beraten wurde. Am Montag, dem 24. Januar, erklärte sich der Emeritus: Ihm sei ein Fehler unterlaufen. Allerdings sei auf der fraglichen Sitzung im Januar 1980, an der er in der Tat teilgenommen habe, über die weitere seelsorgerliche Verwendung des gefallenen Geistlichen nicht gesprochen worden. 

Reformorientierte Theologen wollen eine andere Kirche

Daß Joseph Ratzinger während seiner langen Karriere innerhalb der katholischen Kirche Fehler unterlaufen sind, diese Botschaft ist schon länger angekommen. Seine prinzipielle Integrität steht trotzdem außer Frage. Viel lohnender ist die Beschäftigung mit der Frage, in welchem Rahmen über das aktuell nachgewiesene Papst-Versehen berichtet (neudeutsch: wie es „geframt“) wurde. Denn da gibt es Motive zu entdecken, die man auf den ersten Blick leicht übersieht. 

Erwartungsgemäß war die Meldung über Versäumnisse in der Leitung der Diözese München und Freising (Erzbischöfe Ratzinger, Wetter, Marx) willkommener Anlaß zur Erneuerung des Vorwurfs, den deutsche Medien im Zuge der Mißbrauchskrise immer wieder erhoben haben: Die Täter hätten weltlichen Justizbehörden überantwortet und nicht lediglich an andere Dienstorte versetzt werden müssen, wo sie erneut zu Tätern werden konnten. Ins Visier der journalistischen Ankläger geriet dabei ausgerechnet derjenige der drei Erzbischöfe, dessen Amtszeit am längsten zurückliegt. Der Kirchenrechtler Thomas Schüller ließ sich zitieren mit den Worten, der emeritierte Papst habe „eindeutig gelogen“ und durch sein Verhalten sein Lebenswerk „komplett ruiniert“. Die aggressive Wortwahl des katholischen Theologen mutet befremdlich an in Zeiten einer politischen Kultur, die weitgehend unbeanstandet durchgehen ließ, daß wesentlich vitalere Amtsträgerinnen wie Franziska Giffey, Annalena Baerbock oder Ursula von der Leyen ihren offensichtlichen Täuschungsversuchen einen Karriereschub verdanken, während der 94jährige schon länger kein Amt mehr bekleidet.

Schüllers Angriffslust verrät seine Ressentiments, ist er doch Teil eines leidenschaftlichen Kulturkampfes: Reformorientierte Theologen wollen eine andere Kirche. Der Weg dorthin heißt „synodal“. Auf eine simple Formel gebracht, geht es dabei um den Austausch der Oberhoheit der Kurie in Fragen der Glaubenslehre durch einen kirchlichen Parlamentarismus. Die Mißbrauchskrise dient als Vehikel. 

Schüller, ein erklärter Befürworter dieses „synodalen Wegs“, war der willkommene Gesprächspartner, um der Propaganda für dessen Agenda eine kräftige Vitaminspritze zu verabreichen. Der Theologie-Professor der Universität Münster war es auch, der in der Debatte um die Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980 Ratzingers langjährigen Weggefährten und späteren Gegner Hans Küng ins Spiel brachte, dem genau einen Monat zuvor, am 15. Dezember 1979, mit Ratzingers Billigung die Lehrerlaubnis entzogen worden war. Die Figur Küngs ist wesentlich für das Verständnis dessen, worum in der katholischen Kirche gerade so vehement gerungen wird. 

Der voriges Jahr verstorbene Theologe hatte 1974 in seinem Buch „Christ sein“ ein anderes Evangelium verkündet. Jesus, behauptete er, sei nicht so zur Welt gekommen, nicht so von den Toten auferstanden und auch nicht in den Himmel gefahren, wie es die Bibel schildert. Küng war Professor in Tübingen, Thomas Schüller nahm 1982 sein Theologiestudium auf. Er studierte unter anderem in Tübingen. Ratzinger war zu diesem Zeitpunkt bereits zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre aufgestiegen und damit für die dem linken universitären Milieu zuzurechnenden Küng-Jünger die Haßfigur par excellence. Es ist also mehr als wahrscheinlich, daß der ehemalige Tübinger Student mit seiner harschen Kritik an Benedikt auch alte Rechnungen begleicht.

Ratzinger steht für eine strenge christliche Morallehre

Küng und Ratzinger bilden die beiden Pole eines Antagonismus, der keine Versöhnung zuläßt. Mit der Gründung seiner berühmten Stiftung Welt-ethos, die das sittlich Verbindende zwischen den Weltreligionen sucht und so die in seinen älteren Schriften begonnene Revision des traditionellen christlichen Glaubens fortsetzte, avancierte der in Ungnade Gefallene zu einer der intellektuellen Leitfiguren des Postachtundsechziger-Diskurses. Der Tübinger Professor löste den an Ostern geknüpften Offenbarungs- und Erlösungscharakter des Christentums in einem billigen Ethik-Eintopf auf, dessen fader Für-alle-was-dabei-Geschmack neomarxistische Befreiungstheologen, Pazifisten und Ökobewegung am selben Tisch zusammenbrachte.

Steuermann des entgegengesetzten Kurses war und ist Joseph Ratzinger, der der biblischen Überlieferung die Treue hielt. Man könnte es auf die einfache Formel bringen: Ratzinger ließ sich von Gott definieren, Küng definierte Gott um. Küngs Weg erfordert Hochmut, der von Ratzinger Demut. Hochmut aber ist für eine dem säkularen Selbstbestimmungs- und Selbsterlösungsglauben zuneigende aufgeklärte Gesellschaft die attraktivere, die zeitgemäßere Haltung. Aktuell begegnet sie uns im erwähnten „synodalen Weg“, der den Schulterschluß zwischen Regenbogenideologie und modernem kirchlichen Engagement sucht. 

Ratzingers Eingeständnis, doch an der Sitzung im Januar 1980 teilgenommen zu haben, nutzten die öffentlich-rechlichen Leitmedien ARD und DLF am 24. Januar zu einer weiteren propagandistisch wirksamen Verknüpfung: der Meldung über mehr als hundert Angestellte der katholischen Kirche, die sich als „Queer“-Denker zu erkennen gegeben haben und sich – welch Zufall – am selben Abend als Protagonisten der ARD-Doku „Wie Gott uns schuf“ vor laufender Kamera über ihre Not auslassen durften, sich wegen ihrer Bindung an das kirchliche Sittengesetz als sexuell diskriminiert und von Arbeitsplatzverlust bedroht zu sehen. Ausgiebig zu Wort kommt in dem Film wiederum der radikale Ratzinger-Kritiker und Küng-Apologet Thomas Schüller – die öffentlich-rechtlichen Leitmedien als Echokammer, in der immer dieselben Stimmen von Wand zu Wand hallen. Ziel: die Diskreditierung des Gegners.

Daß ausgerechnet Benedikt XVI., der immer wieder mahnte, daß es kein richtiges Priesterdasein im falschen gibt und nur die totale Hinwendung an den Allmächtigen zum Priesterberuf befähigt, nun am Pranger der medialen Aufklärer steht, ist besonders bitter, weil er den Sittenverfall in der katholischen Kirche, der den Mißbrauchsfällen den Weg bereitete, schon früh kommen sah. Daß homosexuell empfindende Menschen für geistliche Ämter eo ipso untauglich sind, daß die sexuelle Revolution aus Priesterseminarräumen ausgesperrt gehört und daß sich Keuschheit nicht automatisch per Priesterweihe einstellt, waren Überzeugungen, aus denen massive Abwehrmaßnahmen hätten resultieren müssen, die sich jedoch nach dem II. Vatikanischen Konzil in Zeiten erodierender Sitten nicht durchsetzen ließen.

Der Anstand würde eigentlich gebieten, daran zu erinnern, daß nicht Vertuschungsmechanismen am Anfang der Mißbrauchskrise mit zu rund zwei Dritteln gleichgeschlechtlichen Übergriffen stehen, sondern das bedenkenlose Absenken moralischer Standards und die Preisgabe absoluter Glaubensgrundsätze. Eindringlich warnte Ratzinger in der Aufsatzsammlung „Zurück zu Gott“ vor der „Gefahr, daß wir uns zu Herren des Glaubens machen, anstatt uns vom Glauben erneuern und beherrschen zu lassen“.

Wer dafür verantwortlich ist, daß in den siebziger Jahren zahlreiche für das Priesteramt Untaugliche in den hauptamtlichen Dienst strömten, diese Frage blenden die vielen Enthüllungsjournalisten konsequent aus, denn sie riecht nach „Homophobie“. Ein konservativer Mahner wie Joseph Ratzinger war es jedenfalls nicht. Eher sind die Zerstörer in den Reihen derjenigen zu suchen, die sich selbst zu „Herren des Glaubens“ erklärten und Konstanten wie das Keuschheitsgebot relativierten.

Tragische Ironie muß man es wohl nennen, wenn Ratzinger nun daraus ein Strick gedreht wird, daß sein kompromißloses Ja zur strengen christlichen Morallehre, die Mißbrauchsfälle hätte verhindern können, wäre sie nur allerorts im Hoheitsbereich des Heiligen Stuhls rigoros befolgt worden, ihm als erzkonservativ und deshalb falsch ausgelegt wird. Der nachsichtige Umgang mit dem Gestrauchelten im Sinne des christlichen Liebesgebots erscheint seinen Kritikern hinwiederum als viel zu progressive Umsetzung des modernen Resozialisationsgedankens, weil dadurch die Opfer verhöhnt würden.

Komplettiert wurde das mediale Einstimmigkeitskonzert am 26. Januar durch die Meldung, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing habe erneut „umfassende Reformen“ gefordert, zielgenau eine Woche vor der dritten Vollversammlung des „synodalen Wegs“ vom 3. bis 5. Februar dieses Jahres in Frankfurt am Main. Konsequent folgt die von linken Kirchenaktivisten („Wir sind Kirche“, „Maria 2.0“) ins Leben gerufene Reformbewegung der mit dem Relativismus eingeschlagenen Richtung und peilt als heilsgeschichtlichen Endpunkt offenbar eine Art supranationale NGO mit museal-religiösem Anstrich an, deren üppige finanzielle Ausstattung eine ganze Flotte von regenbogenfarbenen Kirchen- und Seenotrettungsschiffen möglich macht und an den Gestaden des neomarxistisch-feministischen Selbsterlösungsevangeliums ihren mit den nötigen ideologischen Leuchtfeuern markierten Heimathafen findet.

Unterwegs dorthin werden sicher noch einige von Bord gehen, falls nicht sowieso das ganze Projekt Schiffbruch erleidet.

Foto: Kardinal Reinhard Marx bei einer Pressekonferenz am 27. Januar: Der Erzbischof von München und Freising gab das Gutachten zum sexuellen Mißbrauch in seiner Erzdiözese in den Jahren 1945 bis 2019 in Auftrag. Er gilt als Fürsprecher des „Synodalen Weges“. Gemeint ist damit ein Reformprozeß, bei dem es vor allem um die Themen Machtmißbrauch, Sexualmoral, Lebensform der Priester und die Rolle von Frauen in der katholischen Kirche geht. Die nächste Vollversammlung findet in dieser Woche von Donnerstag bis Samstag statt. Geleitet wird sie von dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, und der Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp.