© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Neue Rangliste der Seemächte
Eine exklusive „neue Weltordnung“: Die Washingtoner Flottenverträge 1922
Lothar Höbelt

Wenn es nach 1918 den Versuch einer „neuen Weltordnung“ gegeben hat, dann verkörpern ihn nicht die heiß umstrittenen Pariser Vorortverträge, die gerade einmal einen Teil Europas betrafen – und bereits mit dem Problem heillos überfordert waren, was man denn nun eigentlich mit der Sowjetunion tun solle. Der eigentliche Versuch, die globalen Machtverhältnisse zu regeln, folgte erst mit den Washingtoner Flottenverträgen, die am 6. Februar 1922 unterzeichnet wurden: Hier waren die See- und Siegermächte unter sich. Deutschland und Rußland waren nicht geladen, nicht bloß, weil sie zu den Verlierern zählten, sondern weil sie eben Kontinentalmächte waren, die so bald keine Flotte mehr bauen würden.

Frankreichs vergeblicher Kampf um Platz drei der Seemächte

Die Flottenverträge stellten ein Novum und ein Kuriosum dar. Ein Novum, weil damit zum ersten Mal ein multilaterales, ansatzweise weltumspannendes Rüstungsbeschränkungsabkommen verwirklicht wurde. Ein Kuriosum insofern, weil eine der zentralen Bestimmungen des Vertrages die Parität herstellte zwischen zwei Imperien, die ohnehin schon seit Jahrzehnten beschlossen hatten, gegeneinander keinen Krieg mehr zu führen. Dabei waren es gerade die Briten und die USA, die sich schon mehr als ein Jahrhundert zuvor auf ein Flottenabkommen geeinigt hatten. Nach dem sogenannten „War of 1812“ war beiden das Wettrüsten auf den „Großen Seen“ zu teuer geworden, wo mitten in der Wildnis riesige Linienschiffe gebaut wurden. Die amerikanischen Binnengewässer sollten in Zukunft demilitarisiert werden. Damals hatten beide noch damit gerechnet, demnächst sicher wieder Krieg gegeneinander führen zu müssen: Zu sehr lagen die Vorstellungen von neutralem Handel und „Britannia, rule the waves“ auseinander. 

Doch spätestens seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg hatte man in London beschlossen, einen Krieg mit den USA dürfe es einfach nicht mehr geben. Insofern tat man sich leicht, den USA 1922 die Parität zuzugestehen. Die Briten verfügten zwar weiterhin über die größte Marine der Welt; doch die USA, die erst später in den Ersten Weltkrieg eingetreten waren – und über die größeren Ressourcen verfügten –, befanden sich auf der Überholspur. Das allein hätte noch kein solches Unglück bedeutet. Doch was man in der britischen Admiralität fürchtete, war das schlechte Beispiel: Wenn alle anderen dem amerikanischen Beispiel folgten, gerieten auch die Briten in Zugzwang. Je mehr neue Schiffe gebaut wurden, desto mehr wurden die älteren britischen Modelle entwertet.

Das eigentlich Spannende waren deshalb die Verhandlungen um die Plätze drei, vier und fünf. Auf Platz drei hatten ursprünglich die Franzosen reflektiert. Sie wollten zumindest gleichziehen mit den Japanern. Doch mit einer so kleinen Flotte hätten sich die Japaner nicht zufriedengegeben. Schlimmer noch für Frankreich: Es mußte zum Schluß die Parität mit Italien akzeptieren, seinem Rivalen im Mittelmeer. Man tröstete sich in Paris damit, Italien – mit einem BIP, das nur halb so groß war wie das französische – werde ganz einfach nicht so viel Geld aufbringen können, um mit den Franzosen wirklich gleichzuziehen. Doch Mussolini sollte ihnen das Gegenteil beweisen. Die wegwerfende Behandlung der Franzosen aber bewies einmal mehr, auf welch schwankenden Fundamenten die Position der vermeintlichen Siegermacht Frankreichs ruhte.

Doch die eigentliche Weichenstellung in Wa­shington war der Vertrag, der nicht verlängert wurde, nämlich das britisch-japanische Bündnis aus dem Jahre 1902. Der Pakt hatte sich bewährt: Er hatte es Japan ermöglicht, 1904/05 die Russen zu schlagen. Den Briten war es erspart geblieben, ihren europäischen Rivalen bei ihren fernöstlichen Ambitionen selbst in die Parade zu fahren. Die Vorrangstellung, die Japan nach 1918 im Norden Chinas einnahm, störte die Briten nicht allzu sehr – die USA allerdings schon. Den Briten waren die pro-japanischen „Warlords“ die längste Zeit lieber als die chinesischen Nationalisten von Chiang Kai-Sheks Kuomintang. Doch den US-Amerikanern war diese Klüngelei ein Dorn im Auge. Sie bestanden auf der Auflösung des britischen Bündnisses mit Japan. Schweren Herzens willigten die Briten ein. Alan Clark, ein origineller Politiker und Amateur-Historiker, formulierte es im Rückblick hart: Die Briten haben Japan verraten.

Das Ergebnis der Verhandlungen war ein Schlüssel von je 15 Schlachtschiffen für die USA und das Empire, 9 für Japan und je 5 für Frankreich und Italien. Die Japaner bestanden nicht länger auf einem Verhältnis von 7 zu 10 mit den USA. Die Angelsachsen verpflichteten sich im Gegenzug dazu, zwischen Singapur und Hawaii keine neuen Stützpunkte auszubauen. Bei Kreuzern konnte man sich auf keinen Schlüssel einigen. Es blieb bei der Bestimmung, sie dürften nicht größer als 10.000 Tonnen sein. Das Abkommen wurde – mit kleinen Einschränkungen – sogar eingehalten. Alle Verdächtigen warteten pflichtschuldigst sein Auslaufen ab, bevor sie ab 1935/36 neue Schlachtschiffe auf Kiel legten. Man konnte darüber streiten, ob ein Kreuzer jetzt 10.000 oder 11.000 Tonnen Wasserverdrängung hatte, vielleicht gar schon ein „Westentaschen-Schlachtschiff“ war, aber ein „Dreadnought“ von 200 Metern Länge ließ sich nicht so leicht verstecken.

Mit Flugzeugträgern und U-Booten die Verträge unterlaufen

Freilich: Das Abkommen wurde von der technischen Entwicklung mit der Zeit unterlaufen. Zum einen ging es dabei um die U-Boote, die an die Stelle der Freibeuter getreten waren, als Waffe der Unterlegenen, die klassischen Seemächten das Leben schwermachten. Die Engländer hätten am liebsten ein Verbot durchgesetzt, aber da legten sich die Franzosen quer. Vor allem aber ging es um die Flugzeugträger. Hier gab es Obergrenzen nur nach der Tonnage, nicht nach der Zahl. 1922 gab es freilich erst ein paar experimentelle Modelle. Einige der nicht weiter gebauten Schlachtschiffe wurden jetzt umgerüstet. Selbst 1935 war die Fachwelt noch geteilter Meinung über deren Meriten. Japan sollte die Welt wenige Jahre später mit dem perfekt geplanten Angriff auf Pearl Harbor verblüffen. Doch gerade in Japan setzte die Marine in den dreißiger Jahren in erster Linie keineswegs auf die Träger, sondern auf den Bau zweier Super-Schlachtschiffe ...






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Wien