© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Die Leistungsbereitschaft der Bürger ermuntern
Ludwig Erhard zum 125. Geburtstag: Vater des Wirtschaftswunders
Joachim Starbatty

Erhards Großtat als Direktor für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets ist die eigenmächtige Freigabe der Preise in den von den USA, Großbritannien und Frankreich besetzten Zonen Nachkriegsdeutschlands. Am 20. Juni 1948 war die deutsche Reichsmark durch die D-Mark ersetzt worden, doch ändert der Ersatz einer wertlos gewordenen Papierwährung durch eine neue nichts, wenn die Preise weiter gestoppt bleiben und Geld nur in Verbindung mit Lebensmittelkarten einen Wert hat. 

Ludwig Erhard war vom damaligen Gouverneur der US-amerikanischen Besatzungszone, Lucius D. Clay, zur Rede gestellt worden, er sei nicht befugt gewesen, die Bewirtschaftungsvorschriften des Besatzungsrechts zu ändern. Erhard antwortete: Man könne ihm nichts vorwerfen, er habe sie abgeschafft, und das sei nicht verboten gewesen. Lucius D. Clay, dem Erhards Mut imponierte, erwiderte, seine Experten hätten ihm gesagt, daß die Preisfreigabe katastrophal enden werde. Erhard entgegnete, auch seine Experten hätten ihm abgeraten. Es kam anders. Am Tag nach der Währungsreform waren die Auslagen der Geschäfte wieder mit Waren gefüllt. Vor der Währungsreform horteten Produzenten und Geschäftsleute ihre Waren, weil Geld nichts wert war.

Es war nicht bloß erworbenes Wissen, das Erhard die Sicherheit gab, das Überraschende und Undenkbare zu tun, sonst hätten auch die wissenschaftlich geschulten Berater die Abschaffung der Bewirtschaftung empfohlen, sondern seine innere Einstellung und tief verwurzelte Einsicht, daß die Menschen in Freiheit für sich und auch für das Gemeinwohl bessere Entscheidungen treffen können als jede politische Instanz. Er sagte über den allgemein bewunderten Aufstieg Deutschlands aus Ruinen, daß noch kaum je ein Land aus einem vollendeten Chaos heraus eine solch gigantische Aufgabe zu bewältigen hatte, doch sei es kein Wirtschaftswunder gewesen, sondern das eindringlichste Beispiel der Wirtschaftsgeschichte, was möglich ist, wenn die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Bürger ermuntert statt gegängelt werden.

Erhard konnte Menschen für seine Ideen einnehmen. Er gewann ihr Vertrauen, weil sie spürten, daß er hinter seiner Idee stand. Er war kein landgängiger Politiker, der glaubt, taktisch reden zu müssen. Größere Zufriedenheit empfand er, wenn er unpopuläre Grundsätze vertrat und erfreut feststellen konnte, daß seine Offenheit gegen alle Erwartung Beifall erhielt. Die furchtsamen Politiker könnten von ihm lernen, sagte Alfred Müller-Armack, sein langjähriger Weggefährte und Staatssekretär für Europäische Fragen.

Zweierlei hätten wir Ludwig Erhard zu verdanken, hat Milton Friedman, einer der großen liberalen Ökonomen des 20 Jahrhunderts, gesagt: Er habe erstens gezeigt, daß ein marktwirtschaftliches Programm sowohl Freiheit als auch Wohlstand schaffe; zweitens habe er bewiesen – vielleicht noch wichtiger –, daß man mit einem marktwirtschaftlichen Programm auch Wahlen gewinnen könne.

Erhards markwirtschaftliche Einstellung zeigte sich auch in seiner Haltung zur europäischen Integration. Er sah als Europäer die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als einen Nucleus für eine offene Welt. Er dachte global und sah in der europäischen Integration ein begrenztes Mittel im Gegensatz zur weltweiten Verbindung deutscher Unternehmen mit überseeischen Ländern und insbesondere mit den damals noch außerhalb der EWG stehenden europäischen Demokratien. Die Erweiterung der EWG und auch das Konzept des Binnenmarktes hätten seinen Beifall gefunden, nicht hingegen europäischer Zentralismus und gemeinschaftliche Haftung. 

CDU-Mann Erhard stärkte SPD-Minister Schiller den Rücken

Erhards Prinzipientreue konnte man im Bundestag im Mai 1971 erleben. Im Frühjahr 1971 hatten die Mitglieder der EWG eine engere währungspolitische Zusammenarbeit beschlossen. Sie wollten die Bandbreiten ihrer Wechselkurse untereinander verringern, um eine größere Eigenständigkeit innerhalb des von den USA dominierten Festkurs-Systems von Bretton Woods zu demonstrieren. Doch stand der Dollar damals unter starkem Druck. Die Abflüsse aus dem Dollar-Raum überschwemmten insbesondere den deutschen Devisenmarkt und machten eine stabilitätsorientierte Geldpolitik unmöglich. 

Damals hat Karl Schiller, verantwortlicher SPD-Wirtschaftsminister, die Deutsche Bundesbank von ihrer Interventionspflicht entbunden. Daraufhin schoß der Kurs der D-Mark gegenüber dem Dollar nach oben und natürlich auch gegenüber den Währungen aus dem EWG-Raum. Infolgedessen geriet Schiller unter massiven Druck insbesondere der französischen Regierung, aber auch der damaligen Opposition im Deutschen Bundestag, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Sie hatte sich darauf festgelegt, daß Schiller die währungspolitischen Abmachungen hätte einhalten und zur Abwehr der Dollar-Flut Devisenkontrollen hätte einführen sollen. Dann geschah im Deutschen Bundestag das Unerwartete. Ludwig Erhard erhob sich und unterstützte Karl Schiller: Die Freigabe der Wechselkurse sei die einzig richtige Lösung gewesen. Er kritisierte jedoch, daß Schiller mit den EWG-Mitgliedstaaten vereinbart habe, daß Deutschland nach einer Übergangsfrist wieder zu den festgesetzten Wechselkursen und den verengten Bandbreiten zurückkehre, weil das spekulative Bewegungen auslösen würde.

Der Zuhörer spürte, daß hier jemand sprach, der vom marktwirtschaftlichen Geist beseelt war und dies auch überzeugend vertreten konnte. Mein Gott, sagt man sich heute, wie nötig hätten CDU und CSU einen Leitstern wie Ludwig Erhard, der ihnen in der Europäischen Währungsunion den marktwirtschaftlichen Weg weist.






Prof. Dr. Joachim Starbatty lehrte Volkswirtschaftslehre in Tübingen und war Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und von 2014 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments.