© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Fürs erste politisch saturiert
England nach dem Tod Georgs VI. 1952: Das Inselreich zwischen Tradition und Transformation
Heinz-Joachim Müllenbrock

Als Georg VI. vor siebzig Jahren starb, schien das traditionelle England nach der zeitgeschichtlichen Zäsur der Labour-Nachkriegsregierung mit ihrem umfassenden staatlichen Versicherungs- und Sozialisierungsprogramm wieder auf dem Vormarsch zu sein. Durch seine tapfere Haltung im Zweiten Weltkrieg hatte der König, der durch die das Land aufrüttelnde Abdankungskrise um seinen Bruder und Vorgänger Eduard VIII. 1936 auf den Thron gelangt war, der Monarchie sogar zu neuer Popularität verholfen. Zudem gab die seit 1951 amtierende Regierung unter Winston Churchills Führung der Konservativen Partei neuen Auftrieb. 

Der Eindruck einer konservativen Renaissance wurde wesentlich verstärkt durch die sich zum nationalen Jubelfest entfaltende Krönung Elisabeths II. ein Jahr später (1953), die erste im Fernsehen übertragene Krönung eines englischen Monarchen. Die Huldigung der Königin durch die Abgesandten des Commonwealth war ein Festzug der pageant, der Britannien in altem Glanz erstrahlen ließ. Der durch die Aura der jungen schönen Königin erweckte patriotische Überschwang ließ sogar hochgestimmte Erwartungen eines neuen elisabethanischen Zeitalters aufkommen. Das waren allerdings mehr nostalgische Beschwörungsformeln als handfeste, programmatisch untermauerte Aufbruchssignale, wie sich über kurz oder lang herausstellen sollte.

Denn die prosaische Nachkriegswelt hatte England bald fest im Griff. Nachdem Indien, das Kronjuwel des Empire, bereits 1947 in die Unabhängigkeit entlassen worden war, wurden weitere Gebiete, wie etwa der Sudan schon 1956, auf den Weg der Selbstregierung gebracht. Der 1948 unter der Regierung Clement Attlee verabschiedete British Nationality Act, der den Bewohnern Großbritanniens, des Empire und des Commonwealth das Gewohnheitsrecht bestätigte, gleichberechtigte Untertanen der britischen Krone zu sein, sollte sich, ergänzt durch eine Staatsbürgerschaftsklausel, die das Niederlassungsrecht auf der Insel betraf, als Vorbote späterer Masseneinwanderung erweisen.

Englands Rolle als unabhängige Weltmacht war ausgespielt

In der Aktualität der fünfziger Jahre ließ ein außenpolitisches Desaster letzte Illusionen einstiger Empire-Herrlichkeit zerplatzen. Nur vier Jahre nach dem Tod Georgs VI., der noch den Titel „Emperor of India“ geführt hatte, und drei Jahre nach der glamourösen Krönung Elisabeths II. mußte England die nachkriegspolitischen Realitäten verbittert zur Kenntnis nehmen. Als die Regierung Anthony Eden 1956 aufgrund ihres militärischen Eingreifens in der Suez-Krise, die von dem in England als kleiner Hitler gescholtenen ägyptischen Präsidenten G.A. Nasser ausgelöst worden war, von den antiimperialistisch gesinnten US-Amerikanern zurückgepfiffen wurde, war Englands Rolle als unabhängige Weltmacht ausgespielt. Romantische Träume von ihrer Wiederbelebung gibt es bis heute, so auch bei den Interventionisten für westliche Werte im gegenwärtigen Kabinett Boris Johnsons.

Auf innenpolitischem Gebiet erfolgte der Traditionsabbau weniger dramatisch. Doch die durch das umfangreiche Reformprogramm der Labour-Regierung bewirkte Veränderung des sozialpolitischen Klimas ließ auch die konservative Regierung nicht unberührt, die dem Zeitgeist Tribut zollte und die wesentlichen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates fast übergangslos übernahm. So hielt sich die Regierung Churchill nicht mehr an die von den Tories lange vertretenen Prinzipien einer sich selbst regulierenden liberalen Wirtschaftsordnung und legte ein umfassendes Hausbauprogramm auf; über eine Million Häuser und Wohnungen wurden gebaut, was zur Vollbeschäftigung beitrug. Der Begriff „Planning“, der noch 1945 in konservativen Ohren wie ein fast obszön anmutender Labour-Slogan geklungen hatte, verlor seine Bedeutung als Schimpfwort. Ökonomische Planung wurde zunehmend als selbstverständliche Aufgabe einer Regierung angesehen. Die planerische Hinterlassenschaft der Labour-Regierung blieb weitgehend unangetastet; nur die Stahlindustrie und der Güterkraftverkehr wurden 1953 reprivatisiert.

Zudem setzte die konservative Regierung auf eine gedeihliche Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Der dadurch bewirkte Aufstieg einer gut verdienenden Arbeiterschicht in die untere Mittelklasse förderte den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Die verstärkte Hinwendung zu den Anliegen der Arbeiterklasse brachte eine gewisse Dynamisierung der sozialen Verhältnisse mit sich, die sich in einer Neuausrichtung des Erziehungswesens niederschlug. Nachdem vor dem Krieg nur 14 Prozent der Schülerschaft eine über den Grundschulbesuch hinausgehende Bildung genossen hatten, führte die in den fünfziger Jahren einsetzende Umgestaltung des Sekundarschulwesens zu einer „Demokratisierung“ des Bildungssektors. Zwar behielten Public Schools wie Eton oder Winchester ihre gesellschaftliche Spitzenstellung bei, doch erlangte das Bildungswesen durch die Gründung neuer, zu den Grammar Schools hinzutretender Schultypen wie Secondary Modern Schools und Comprehensive Schools eine Vielgestaltigkeit, die bisher bildungsfernen Schichten den sozialen Aufstieg ermöglichte.

Die Durchbrechung des Bildungsmonopols der oberen Klassen veränderte das soziokulturelle Klima, in dem vor kurzem emanzipierte Schichten sich selbstbewußt artikulierten und ihre Belange geltend machten. So konnten Absolventen der neuen Bildungseinrichtungen ihre wachsende Selbstsicherheit bekunden, indem sie dem locker-leichten privaten Fernsehsender ITV den Vorzug vor der honoratiorenhaften BBC gaben. In der kulturellen Szene wurde vor allem die Literatur zum Austragungsort politisch-sozialer Differenzen. Dabei büßte die bislang tonangebende Oberschicht ihre Leitfunktion als geschmacksbestimmende Instanz ein. 

Eine literarische Trendwende trat zunächst auf dem Gebiet des Romans zutage, in dem sich eine deutliche, gegen das Establishment gerichtete Mentalitätsverschiebung abzeichnete. Autoren wie John Wain, John Braine und Alan Sillitoe wandten sich von der Literatur der klassischen Moderne und ihrem Bildungssnobismus und hochgestochenen Intellektualismus ab, wie er exemplarisch vom Bloomsbury-Kreis um Virginia Woolf verkörpert wurde. In einem stilistischen Paradigmenwechsel schrieben sie Romane in einfacher Sprache, die einen unmittelbaren Zugriff auf die von ihnen als betrüblich wahrgenommene englische Realität ermöglichten.

Prototypisch für diese Umorientierung ist John Wains Roman „Hurry on Down“ (1953). Sein Antiheld Charles Lumley lehnt zwar überkommene Wertvorstellungen radikal ab, zeigt aber trotz seines Aufbegehrens gegen die bestehenden Verhältnisse keinerlei Anwandlungen für eine umwälzende Neugestaltung der etablierten Gesellschaft. Lumley, der es im Grunde genommen haßt, sich in deren Ordnung einzufügen, gibt sich schließlich mit einer einträglichen Stelle als Gagschreiber beim Rundfunk zufrieden. Der insgesamt solide politische Zustand des Landes bot keine ausreichende Handhabe für revolutionären Widerstand.

Der spektakulärste Fall gesellschaftlicher Entfremdung wurde in John Osbornes die Neuausrichtung des Theaters initiierendem Drama „Look Back in Anger“ (1956) vorgeführt. Durch dieses Stück  kam der Begriff Angry Young Men für eine Gruppe von Autoren in Umlauf, die sich gegen Kulturbürgertum, Establishment und repressive Gesellschaftsstrukturen zur Wehr setzten. In „Look Back in Anger“ läßt der aus der Arbeiterklasse stammende Protagonist Jimmy Porter seiner Aversion gegen die Institutionen der alten Gesellschaft freien Lauf, indem er seine bürgerliche Ehefrau Alison mit wüsten Beschimpfungen überschüttet. Diese rhetorische Kaskade an Unflätigkeiten gab auf aufsehenerregende, bewußt obszöne Weise der Unzufriedenheit einer ganzen Generation Ausdruck, die sich um die von der Labour-Regierung versprochene Erneuerung der Gesellschaft betrogen fühlte und auch mit den Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates haderte. Zugleich artikulierte sich gerade in der Intensität von Jimmy Porters Protestschrei die politische Ratlosigkeit seines Autors Osborne, dessen Protagonist in seinem ziellosen Aufbegehren keine Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen setzt und dementsprechend auch über kein ideologisches Programm verfügt.

Zwar standen auf kultureller Ebene die seit 1945 hervorgetretenen sozialen Spannungen weiter im Blickfeld und vermittelten den eher trügerischen Eindruck tiefgreifender gesellschaftlicher Zerrissenheit. Doch als der konservative Premierminister Harold Macmillan 1959 im Wahlkampf die Segnungen der durch einen stabilen Wirtschaftsaufschwung herbeigeführten Konsumgesellschaft pries („You’ve never had it so good“), war die überwiegende Mehrheit der Inselbevölkerung mit dem Stand der Dinge zufrieden. Die fünfziger Jahre klangen politisch mit der wiedererlangten Stärke der regierenden Konservativen Partei aus, die sich jetzt auch als Anwalt des kleinen Mannes profilierte, mochte sie ihr Spitzenpersonal auch weiterhin aus der Elite von Eton und „Oxbridge“ rekrutieren. England schien zumindest fürs erste politisch saturiert.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Anglizismen (JF 40/20).

Foto: Wohnungsbauminister Harold Macmillan 1952 vor neuen Arbeiterwohnungen: Dynamisierung der sozialen Verhältnisse