© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Interpretationen der Flaschenpost
Der Germanist Martin Mittelmeier geht der Wirkungsgeschichte von Adornos und Horkheimers Werk „Dialektik der Aufklärung“ nach
Felix Dirsch

Als Kultbücher eingestufte Werke brauchen nicht unbedingt viel gelesen zu sein. Erst recht muß ihr Inhalt nicht verständlich sein. Es reicht, daß bestimmte Passagen exzessiv zitiert werden. Dabei ist es nicht unbedingt nötig, sich auch nur die Kernaussagen allesamt anzueignen.

So kann man einen Teil der Rezeptionsgeschichte der „Bibel der Studentenbewegung“ (Norbert Bolz) pointiert wiedergeben. Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Essayband „Dialektik der Aufklärung“ war seit seinem Erscheinen 1947 im Amsterdamer Querido-Verlag anfangs nur ein Geheimtip, oft nur als Raubdruck zugänglich. Erst im Zuge der politischen Umbrüche der sechziger Jahre kam 1969 eine verbreitete Ausgabe auf den Markt. Besonders die These der wechselseitigen Verstrickung von Aufklärung und Mythos elektrisierte damals, waren doch viele 68er-Aktivisten angetreten, das Unvorstellbare (soweit irgendwie möglich) aufzuhellen: den Rückfall aufgeklärter, liberaler Institutionen der deutschen Gesellschaft vor 1933 in die unbegreifliche Barbarei der dunklen Jahre.

Um diesen Klassiker der Kritischen Theorie, der in den frühen vierziger Jahren aus protokollierten Gesprächen Adornos mit Horkheimer an der US-Westküste hervorging, rankten sich stets viele Legenden. Sein Erfolg, so wird bald nach seiner Publikation kolportiert, sei so unwahrscheinlich wie die punktgenaue Ankunft einer Flaschenpost. Allerlei Narrationen konnten an solche rührseligen Überlieferungen anschließen. 

Der Publizist Martin Mittelmeier hat einen neuen Versuch unternommen, die „philosophischen Fragmente“ für ein interessiertes Publikum aufzubereiten. Da in der „Dialektik“ über alles Mögliche fabuliert wird, von der Unterdrückung der äußeren wie inneren Natur über die Odysseus-Erzählung und die „Elemente des Antisemitismus“ bis zum besonders häufig plagiierten Kapitel „Kulturindustrie“ und ihrer „Aufklärung als Massenbetrug“, fühlen sich Interpreten gern zu weitschweifigen Deutungen angeregt. Mittelmeier ist dabei keine Ausnahme.

Der Entstehungskontext des Jahrhundertbuches ist in der Tat nicht leicht zu beschreiben. Er läßt sich nicht von der wechselhaften Geschichte des lange in Frankfurt ansässigen Instituts für Sozialforschung trennen, ebensowenig wie von den Biographien der ins Exil getriebenen Protagonisten, die diese Einrichtung mit ihren zahllosen Kontakten geprägt haben.

Mittelmeier geht es nicht in erster Linie um eine Exegese des Textes im engeren Sinn, sondern um eine ausführliche Darstellung der „Geisteskolonie unter kalifornischen Palmen“. Dieses Vorgehen hat für den Leser durchaus seinen Reiz. Er kann sich in die atmosphärisch verdichtete und unterhaltsame Erzählung vertiefen.

Ohne die Leistungen des Autors geringschätzen zu wollen, sind doch seine Versuche, zentrale Aussagen Adornos und Horkheimers zu aktualisieren, wenig zielführend. Simplifizierend zu behaupten, die aufgeklärte Welt erscheine heute angesichts der Präsenz eines vermeintlichen Populismus ebenso gefährdet wie damals vor dem Hintergrund des temporären Siegeszuges von Faschismus und Stalinismus, pflegt höchstens oberflächliche Verdammungsurteile der allgegenwärtigen linken Kulturindustrie. Diese mutet höchstens wie ein billiger Abklatsch im Vergleich zu der von den beiden Hauptvertretern der Kritischen Theorie analysierten an. Bis zum Institut für deutsche Sprache und Literatur in Köln, an dem Mittelmeier als Honorarprofessor fungiert, ist noch nicht vorgedrungen, daß man gewählte „Populisten“ wie Bolsonaro, Trump oder Orban auch wieder abwählen kann. In kommunistischen und faschistischen Gewaltherrschaften gab es diese Möglichkeit nicht. So einfach ist der Inhalt eines Klassikers dann also doch nicht herunterzubrechen. 

Martin Mittelmeier: Freiheit und Finsternis. Wie die „Dialektik der Aufklärung“ zum Jahrhundertbuch wurde. Siedler Verlag, München 2021, gebunden, 318 Seiten, 24 Euro