© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/22 / 04. Februar 2022

Im Nirwana der Schweigespiralen
Für Forschungen zur Völkerpsychologie gilt nicht der Klima-Ruf „Folgt der Wissenschaft!“
Dirk Glaser

Ein Kommentar zum Kulturkrieg in Nordamerika und Westeuropa könnte mit dem Diktum des „Manifests der Kommunistischen Partei“ anheben: „Ein Gespenst geht um …“ Jedoch nicht das von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 bemühte „Gespenst des Kommunismus“, gegen das sich „alle Mächte“ zu einer „heiligen Hetzjagd“ verbündet haben, sondern das der „Rasse“. Also das biologische Substrat von Völkern, das eine Unesco-Kommission 1952 vermeintlich „für immer“ in die Rumpelkammer der politischen Ideengeschichte verbannte.

Aber spätestens seit dem 25. Mai 2020 ist es zurück. An dem Tag kam der Kleinkriminelle George Floyd während eines Polizeieinsatzes in Minneapolis ums Leben. Sein Tod löste in zahlreichen US-Innenstädten Gewaltorgien der „Black Lives Matter“-Bewegung aus. Seither werden politische Forderungen nach mehr „Teilhabe“ und „Gerechtigkeit“ aggressiv im Namen der schwarzen gegen die weiße „Rasse“ erhoben. Dieses Konfliktpotential schien mit dem Civil Rights Act von 1964, der in den USA verbot, Menschen nach Rasse, Hautfarbe, nationaler Herkunft, Religion und Geschlecht zu benachteiligen, endgültig entschärft.

Doch auf dem Boden der von extremer ökonomischer Ungleichheit geprägten US-Gesellschaft beginnt sich der alte Konflikt abermals zu entladen. „Cancel Culture. Dabei verhilft das Signum „positive Diskriminierung“ und das Mantra „Diversität steigern“ längst vielen Afroamerikanern zu privilegiertem Zugang in Schule, Studium und Beruf. Doch inzwischen finden einige Weiße und Asiaten, die Unis verweigerten ihnen die Immatrikulation aufgrund ethnischer Herkunft. Sie haben den Supreme Court angerufen, um dem Civil Rights Act wieder Geltung zu verschaffen. Sprich: Sie wollen einen Studienplatz, obwohl sie keine Schwarzen sind.

Glauben an die grenzenlose Formbarkeit des Menschen

Diese Gefechtslage wird durch Politische Korrektheit nicht übersichtlicher: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“, heißt es 2019 in der „Jenaer Erklärung“. Und sicherheitshalber wird schon vorgebaut: „Es gibt kein Volk“, behauptete Robert Habeck 2018 im Kanal „Informr“. Mehr noch: „Ich wußte mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht“, heißt es 2010 in seinem Buch „Patriotismus: Ein linkes Plädoyer“.

Der heutige grüne Wirtschaftsminister segelt damit voll im Zeitgeist, weil Rasse, Volk, Nation, Geschlecht und daraus abgeleitete Wir-Identitäten für den transatlantisch dominanten „französischen Blödsinn des Poststrukturalismus“ lediglich „Dekonstruktion“ erheischende pure „Erfindungen“ des „rassistischen, sexistischen, homophoben Patriarchats“ seien, wie die 74jährige US-Feministin Camille Paglia höhnt. Wer in diesem  Weltanschauungskampf Orientierung sucht, greife zur aktualisierten „Völkerpsychologie“ von Andreas Vonderach. Der Historiker und Anthropologe unterteilt seinen Stoff in 34 Kapitel. Die ersten zehn, die von der Ethnographie der Antike über die im Zeitalter der Entdeckungen sich häufenden Berührungen mit außereuropäischen Kulturen bis zur eher philosophisch-spekulativen denn empirisch abgesicherten Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts führen, darf überspringen, wem das Buch das Verständnis heutiger, um Volk und Rasse kreisender Deutungskämpfe erleichtern soll.

Hierzu präsentiert Vonderach, kritisch referierend, das breite Spektrum naturwissenschaftlich-medizinischer, ethologisch-psychologischer und sprachwissenschaftlicher Disziplinen, die seit 1900 daran arbeiten, die Verschiedenheit von Völkern und Kulturen zu erforschen. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Darstellung, daß nach dem Kulturbruch von 1968 sich Fälle heftiger, die heutige „Cancel Culture“ vorwegnehmender Abwehrreaktionen gegen Erkenntnisse häuften, die dazu taugten, den „progressiven“ Glauben an die grenzenlose Formbarkeit des von ethnisch-kulturellen Determinanten unabhängigen Menschen zu erschüttern.

Daher galt in der Rezeptionsgeschichte völkerpsychologischer Forschung nie die Parole „Folgt der Wissenschaft!“ Vielmehr kam über den Elfenbeinturm gar nicht hinaus, was manifesten Überzeugungen von der „Gleichheit aller Menschen“ widersprach. So verschwanden etwa hier ausführlicher behandelte Befunde der Intelligenzmessungen, der Humanethologie oder der „Vorurteilsforschung“, die bestätigt, daß die gern verteufelten „ethnischen Stereotype“ kollektives Erfahrungswissen über Völker speichern, das in beachtlichem Maß mit der Wirklichkeit übereinstimmt, im Nirwana vieler Schweigespiralen. Die liegen in Händen wissenschaftsjournalistischer Diskurswächter. So zeigte eine Umfrage 1988, auf dem Höhepunkt der Kontroverse um die Erblichkeit von Intelligenz, daß 54 Prozent der Experten einen genetischen Einfluß auf den IQ-Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen für erwiesen hielten, während 73 Prozent der Wissenschaftsjournalisten dies bezweifelten.

Die Forschung über Intelligenz gilt inzwischen als umstritten

Auf ähnliche Blockaden stießen die Ergebnisse kulturvergleichender Kognitionsforschung, die auf Untersuchungen des Genfer Kinderpsychologen Jean Piaget (1896–1980) aufbauen. Nachdem sie auf die Völkerpsychologie übertragen wurden, stehe seit den 1990ern fest, daß in den traditionellen Regionen Afrikas, Asiens, Ozeaniens und Lateinamerikas zwischen 30 und 50 Prozent der Menschen nur Piagets dritte, im Vorschulalter einsetzende Phase der Kognitionsentwicklung, den logischen Umgang mit konkreten Objekten, erreichen.

Die vierte, mit der Pubertät anbrechende Phase, in der logisches Denken abstrakte Sachverhalte bewältigt, ist ihnen – im Unterschied zu 50 bis 90 Prozent der Bevölkerung in den modernen Industrienationen – zeitlebens verwehrt. Sie verharrten auf der „prälogischen“ Stufe, die der Pariser Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl (1857–1939) schon in den 1920ern entdeckte. Rund tausend kulturvergleichende Studien auf der Basis von Feldforschungen über 100 Ethnien weltweit haben das Lévy-Bruhl bestätigende „Piaget-Modell“ in den letzten 80 Jahren untermauert. Trotzdem: „Einer breiteren Öffentlichkeit sind sie nie bekannt geworden“.

Ein Argument zur billigen „rassistischen“ Abwertung womöglich anlagebedingt minderbegabter Völker liefert dieses von IQ-Forschung bestätigte Nord-Süd-Bildungsgefälle natürlich nicht. Aber einen Anlaß, darüber nachzudenken, ob es klug ist, Zuwanderung von Fachkräften ausgerechnet aus Weltregionen zu fördern, wo – laut Richard Lynn (Ulster University) – der durchschnittliche IQ mit 65 bis 91 unter dem der Bevölkerung Mitteleuropas (96 bis 101) oder Ostasiens (101 bis 109) liegt.

Andreas Vonderach: Völkerpsychologie – Was uns unterscheidet. Lindenbaum Verlag, Beltheim-Schnellbach 2021, gebunden, 461 Seiten, 29,80 Euro