© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

„Ein Rebell und Abenteurer“
Ulli Kulke: Der Journalist und Autor war Mitgründer der taz und Mitarbeiter der frühen Grünen. Heute kritisiert er die Doppelmoral vieler Linker, die damals Toleranz forderten, sie nun aber anderen verweigern. Sein neues Buch widmet sich konsequenterweise einem Freigeist und Grenzgänger – dem bekannten Diplomaten Erwin Wickert.
Moritz Schwarz

Herr Kulke, einst ein Linksradikaler, nehmen Sie heute die AfD in Schutz. „Wie ist das passiert?“ fragt sich die „taz“ in einem Artikel über Sie. 

Ulli Kulke: Ich war links, wollte aus dieser Haltung heraus die Welt verbessern – aber ich war nicht linksradikal, da irrt die taz.

Die Sie vor über vierzig Jahren mitgegründet haben. 

Kulke: Worüber ich heute noch froh bin. Auch wenn wir in etlichem blauäugig gewesen sind und ich mit der Zeit erkannte, daß viele linke Parolen völliger Quatsch waren. Aber im damaligen journalistischen Meinungsspektrum fehlte die taz.

Heute interessieren Sie sich ausgerechnet für einen Bürgerlichen wie Erwin Wickert – NSDAP-Mitglied, Diplomat, nach 1945 Stütze Adenauer-Deutschlands.

Kulke: Mein Interesse hat sein abenteuerliches Leben geweckt. Aber auch, daß er einer war, der Rabatz machte, etwa 1940 als Rundfunkattaché des Auswärtigen Amtes im besetzten China, wo er dann auch bald wieder rausflog. Wickert hatte immer etwas Spitzbübisches. Dabei zählte er zu den bedeutendsten Diplomaten der Bundesrepublik, war Gesandter in London, Botschafter in Bukarest und Peking. Er war es, der Mitte der sechziger Jahre die Anfänge der neuen Ostpolitik prägte. Es stimmt aber auch, daß er 1939 der NSDAP beitrat – da war er opportunistisch.  

Das klingt nach Karrierismus. Tat er das nicht eher, um sich den Rücken freizuhalten, als um zu avancieren? 

Kulke: Ja, doch sprach er in Briefen später selbst von Opportunismus.

Hat sich Wickert gewandelt, und ist es das, was Sie interessiert – weil es Ihnen ebenso ging und Sie sich damit identifizieren können?  

Kulke: Meine Karriere habe ich zwar 1979 bei der taz begonnen und 2016 bei der Welt beendet. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich mich so sehr gewandelt habe. Ich hätte Wickert 1979 für die taz im großen und ganzen die gleichen Fragen gestellt wie 2007, als ich ihn für die Welt ausführlich interviewte.

Sie haben doch selbst darüber sinniert, wie Sie 2001 im Springer-Hochhaus saßen und von dort auf die nahe „taz“-Redaktion blickten: „Menschenskinder! Hätte mir damals jemand gesagt, ich würde einmal hier enden, hätte ich gelacht oder wäre böse geworden.“

Kulke: Stimmt, allerdings hat sich auch Springer verändert. Wäre ich 1979 dorthin gewechselt, hätte ich meinen Freundeskreis verloren, was 2001 nicht mehr der Fall war. Zudem habe ich bei der taz nie antikapitalistisch geschrieben – kritisch ja, aber mit Verständnis für den Kapitalismus. Schließlich hatte ich auch nicht, wie manche Kollegen, ein marxistisches Studium absolviert, sondern Volkswirtschaft. Ich sage aber nicht, ich hätte mich gar nicht gewandelt. Vielleicht war ich damals nur etwas „aufgeklärter“ als viele Weggefährten und habe mich immer auch entwickelt. Während andere eher stehengeblieben oder, je nach Sichtweise, sich treu geblieben sind. 

Was meinen Sie mit „aufgeklärter“?

Kulke: Ehrlich gesagt fand ich schon damals, daß etliche unserer Positionen keinen Sinn ergaben. Etwa das Verteidigen oder Dulden gewalttätiger Demonstrationen. Ich habe mich immer gefragt: Wie soll eine demokratisch gewählte Regierung so etwas tolerieren? Und wenn wir einmal regieren, gilt das „Recht der Straße“ dann auch?

Offensichtlich nicht, wenn man sich den Umgang von Politik und Medien mit den überwiegend friedlichen Impfprotesten ansieht.  

Kulke: Ja, da fehlt dann die Toleranz, die die Linke damals, als sie auf der Straße der Politik die Stirn bot, einforderte und zum Ausweis echter Demokratie erklärte. Allerdings ist die Doppelmoral beidseitig, denn welcher wütende Corona-Demonstrant fragt sich heute, was er einst von gewalttätigen linken Demonstranten hielt? Wobei die Impfproteste vielschichtig sind und zum Teil nicht nur Corona-fremde, sondern auch fragwürdige Inhalte transportieren. Ebenso wie mich einige, die da mitlaufen, politisch abstoßen und Gewalt ja nun auch nicht immer ganz ausbleibt. Allerdings werden uns diese Leute von den Medien wohl auch bevorzugt präsentiert. So oder so: Während die Grünen und Linken heute von den Corona-Demonstranten fordern, sich von Extremisten zu distanzieren, haben sie selbst damals solche Aufforderungen an sich als unzumutbar betrachtet – obwohl bei ihren Protesten nicht weniger Radikale mitmischten. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich, nachdem ich 1984 von der taz als Referent der Fraktion der Grünen in den Bundestag gewechselt war, und bei einer spontanen Diskussion im Büro – es ging um die Demos gegen US-Präsident Ronald Reagan – ein Kollege plötzlich allen widersprach, indem er einwarf, das Gewaltmonopol des Staates sei kein diktatorisches Übel, sondern eine zivilisatorische Errungenschaft. Ich war verblüfft und dachte: „Der hat Mut!“ Er stand ziemlich allein, man wechselte das Thema. Er wagte zu sagen, was ich eher nur dachte.

Auch Erwin Wickert hat sich mit den Linken angelegt, 2003 sogar mit Außenminister Joschka Fischer. 

Kulke: Aber auch mit Rechten, etwa mit dem einflußreichen CDU-Staatssekretär Walter Hallstein und dessen vor der Neuen Ostpolitik herrschenden Dogma der Nichtanerkennung der DDR. Bei dem 2003 öffentlich ausgetragenen Streit ehemaliger Diplomaten mit Fischer, den Wickert anführte, ging es darum, daß der Minister die bis dahin übliche Würdigung für verstorbene Diplomaten im Hausblatt des Auswärtigen Amtes pauschal untersagte, wenn der Verstorbene ehemals NSDAP-Mitglied war. Und zuvor hatte Wickert die Grünen schon einmal öffentlich angegriffen, als diese mit Petra Kelly und Gert Bastian vor der chinesischen Botschaft in Bonn gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 demonstrierten: Wickert erklärte damals, diese Aktion erinnere ihn an die der SA. Ich finde Wickerts Vergleich befremdlich, er erinnert mich an die geschmacklose Gleichsetzung, die manche auf Corona-Demos betreiben, wenn sie sich gelbe Sterne anheften. Das wäre für mich übrigens ein Punkt, an dem ich eine solche Demo verlassen würde – bei allem Verständnis für die berechtigte Sorge, die Corona-Grundrechtseinschränkungen des Staates könnten Schule machen. 

Das ist in der Tat geschmacklos, aber ist die Empörung darüber nicht reine Heuchelei? Denn mindestens bis in die neunziger Jahre war, Staat und Gesellschaft irgendwie in Zusammenhang, wenn nicht gar mit der NS-Diktatur gleichzusetzen, auf der Linken doch regelrecht „Volkssport“. Inklusive sich selbst in einer Linie mit NS-Widerstand und -Opfern zu sehen.

Kulke: Die Situation war damals eine andere. Nach dem Krieg gab es noch etliche ehemalige faschistische Elemente in der Bundesrepublik, auch in der Politik. Das Schweigen darüber gebrochen und Aufklärung sowie Konsequenzen gefordert zu haben, war nicht nur bitter nötig, sondern auch ein Verdienst. Es stimmt aber, was Sie sagen: Tatsächlich war es übliche Geisteshaltung, den Kampf gegen Zu- und Mißstände, die mit Faschismus nichts zu tun hatten, mit dem Kampf gegen diesen gleichzusetzen. Während des Vietnamkriegs hieß es: „USA – SA – SS!“ So berechtigt der Protest gegen diesen und die US-Verbrechen dort war, wurde doch so getan, als habe man es mit der SS zu tun. Auch war es linker Common Sense, daß jeder, der der NSDAP angehörte, automatisch Faschist war. Wickert etwa – der auf Drängen seines Vaters 1933 sogar einen Aufnahmeantrag bei der SA stellte, ihr dann aber fernblieb – hatte aber trotz seiner Parteimitgliedschaft die NS-Weltanschauung, ihr völkisches Denken, nicht geteilt.

Sie schildern ihn als zutiefst bürgerlich, inklusive der dabei nicht unüblichen Großzügigkeit sich selbst gegenüber, bürgerliche Regeln bei Bedarf für sich auszusetzen, solange der Schein gewahrt bleibt. Was aber nicht klar wird: War er – und für beides gibt es Anhaltspunkte – ein Progressiver oder ein Konservativer? 

Kulke: Wickert war bürgerlich im Sinne, sich der Kultiviertheit, Bildung und Aufklärung verpflichtet zu fühlen. Politisch dagegen, nun, seine Kinder sagen, er habe ab den sechziger Jahren SPD gewählt. Was wohl mit der von dieser vertretenen Neuen Ostpolitik zusammenhing, die er noch vor Willy Brandt selbst stark geprägt hatte. Kaum Achtung hegte er für die Person Brandts, sah ihn als Hallodri. Manche nannten ihn bekanntlich „Willy Weinbrandt“. Was ich bei Wickert allerdings nicht fand, der ja geistige Getränke selbst nicht schmähte. Dann Brandts Weibergeschichten – all das ging Wickert gegen den Strich. Auch vor den Achtundsechzigern warnte er – seinen Sohn Ulrich Wickert sogar einmal ausdrücklich vor Rudi Dutschke. Die jugendlichen Eiferer fand er befremdlich. Dabei war er selbst Rebell und Abenteurer – aber eben auch ein Schlips-und-Kragen-Mensch.

Er scheint im klassischen Sinne freiheitlich gesonnen gewesen zu sein. Wie würde er also wohl auf die Entwicklung unserer Politik und Gesellschaft heute reagieren? 

Kulke: Das habe ich mich auch öfter gefragt. Doch jede Antwort darauf ist Spekulation. Über vieles würde er wohl den Kopf schütteln. Sein Sohn Wolfram meint, die Außenpolitik der neuen Bundesregierung würde er sicher verurteilen, als blauäugig und nicht den deutschen Interessen entsprechend. Ich verurteile sie übrigens nicht, obwohl ich von Annalena Baerbock als Person wenig halte. Daß Wickert sich 1994 in der neuen, nationalliberal orientierten Kleinpartei Bund freier Bürger sogar als Vorstandsmitglied engagierte, zeigt, daß er mit der Entwicklung der Politik zumindest in einigen Punkten nicht mehr einverstanden war.  

Der im Jahr 2000 wieder aufgelöste Bund freier Bürger (BfB) gilt als eine Art Vorläufer der AfD. 

Kulke: Ja, wie bei dieser war Anlaß für die Gründung die Ablehnung des – damals allerdings noch nicht eingeführten – Euros. Doch verließ Wickert die Partei bald wieder, als die den damaligen FPÖ-Chef Jörg Haider einlud, den BfB-Wahlkampf zu unterstützen. Der war Wickert zu rechts. Und so kann man vermuten, daß er entsprechend wohl auch die Entwicklung der AfD bewerten würde. 

Während Sie ja die AfD verteidigt haben. 

Kulke: Gegen willkürliche und unrechtmäßige Benachteiligung, etwa daß die Partei keine Räume bekommt, um sich zu treffen, oder daß man, obwohl sie demokratisch gewählt ist, ihr zustehende Posten vorenthält, oder gegen falsche Behauptungen über ihre Programmatik. Denn so etwas schadet der Demokratie und fördert die Spaltung der Gesellschaft. Das heißt aber nicht, daß ich die Politik der AfD insgesamt verteidige. Sie macht es durch ihr öffentliches Auftreten auch denjenigen, die sie nur vor undemokratischer Behandlung in Schutz nehmen wollen, immer schwerer, bald unmöglich. 

Inwiefern? 

Kulke: Sie diskreditiert sich zu häufig durch Pöbeleien und anrüchige Wortwahl, sogar seitens prominenter Parteienvertreter! Was wirklich dumm ist, da sie auch einige berechtigte Anliegen vorbringt. Sie könnte weit stärker sein, würde sie im bürgerlichen Lager fischen statt rechtsaußen. Der Rückzug Jörg Meuthens ist ein fatales Zeichen. Dabei zeigt etwa der Umstand, daß die Union keinen eigenen Bundespräsidentenkandidaten aufstellt, aus Angst, er könne AfD-Stimmen bekommen, das ganze Dilemma unserer Parteienlandschaft. Ich frage mich, wie lange das noch so weitergehen soll?

Wie bewerten Sie AfD und frühe Grüne im Vergleich?

Kulke: Die 1980 gegründeten Grünen waren zunächst ein wilder Haufen, und man kann sagen, daß sie radikaler als die AfD waren. Vielen Grünen ging es damals um Systemüberwindung. Das wurde nicht ständig skandiert, galt aber im Grunde als selbstverständlich. Wer etwas anderes sagte, erntete bestenfalls Unverständnis. Das galt nicht nur für den Kapitalismus, auch das Grundgesetz und seine freiheitlich-demokratische Grundordnung waren in linken grünen Kreisen negativ besetzt. Allerdings ist es der Führung um Joschka Fischer, Otto Schily und anderen gelungen, die Partei zu entradikalisieren, während bei der AfD der Prozeß leider in die entgegengesetzte Richtung läuft. Sicher auch, weil Medien und Politik die zunächst völlig bürgerliche Partei von Beginn an als radikal stigmatisiert und so gemäßigte Kräfte mit herausgetrieben haben. Die AfD wäre dennoch gut beraten, das Erfolgsrezept der Grünen zu studieren und davon zu lernen. Sonst droht sie, anders als die Grünen, auf Dauer nur eine extreme Protestpartei ohne politischen Einfluß zu bleiben.






Ulli Kulke, der taz-Mitgründer war ab 1979 Redakteur des Wirtschaftsressorts. 1984 wechselte er als Referent zur Bundestagsfraktion der Grünen, später erneut zur taz, dann zu natur, war Ressortleiter der Wochenpost, Vizechefredakter von mare und von 2001 bis 2016 Mitarbeiter der Welt und Welt am Sonntag. Er ist Autor mehrerer Bücher, etwa über Alexander von Humboldt, Vasco da Gama oder Wernher von Braun. Zudem schreibt er für den Blog Achse des Guten. Im Dezember ist seine Biographie über Erwin Wickert (1905–2008) erschienen: „Abenteurer zwischen den Welten. Ein Leben als Diplomat und Schriftsteller“. Geboren wurde Kulke 1952 in Benthe (heute Ronnenberg) in Niedersachsen. 

Foto: Demonstration für Impffreiheit in Berlin: „Während Grüne und Linke heute von den Protesten fordern, sich von Extremisten zu distanzieren, betrachteten sie selbst damals solche Aufforderungen an sich als unzumutbar“