© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Das Geheimnis um Telegram
Bleiben wir in Kontakt: Der Messengerdienst des Russen Pawel Durow ist ein wichtiger Nachrichtenkanal für Bürger in Diktaturen. Aber die Kommunikation ist nicht so sicher, wie oft behauptet. Und Telegram hat ein Problem mit Transparenz. Ob der Dienst tatsächlich abgeschirmt vom Staatszugriff ist? Eine Spurensuche
Hinrich Rohbohm / Christian Rudolf

Nun also doch: Sie sind in Kontakt. Laut eigenen Angaben hat das Bundesinnenministerium einen direkten Draht zur Leitung des umstrittenen Messengerdienstes Telegram bekommen. Am Mittwoch der vergangenen Woche habe per Videokonferenz ein „konstruktives Gespräch mit Vertretern aus der Konzernspitze“ stattgefunden, Telegram habe größtmögliche Kooperationsbereitschaft mit den deutschen Behörden erklärt. Die Verbindung sei über eine E-Mail-Adresse hergestellt worden, die der Google-Konzern freigegeben habe. „Dieser Schritt ist ein guter Erfolg, auf dem wir aufbauen werden“, twitterte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zufrieden.

Die Auffassung des Justizministeriums: Telegram sei mehr als ein Messengerdienst, biete mit seinen Gruppen und Kanälen vielmehr die Funktion eines sozialen Netzwerks und müsse sich dafür an deutsche Gesetze halten. Im Falle zweier Bußgeldverfahren gegen Telegram war es bisher nicht gelungen, fällige Bescheide für eine Anhörung dem Unternehmen mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten auch erfolgreich zuzustellen. Bereits im April vorigen Jahres hatte das damals SPD-geführte Ministerium Telegram schriftlich aufgefordert, strafbare Inhalte auf seiner Plattform zu sperren. Vergeblich. Die mit Sitz in Dubai ausgewiesene Firma hatte auf das Schreiben nicht reagiert.

550 Millionen Menschen auf der ganzen Welt nutzen den 2013 gegründeten Messenger der russischen Gebrüder Durow, der das Image hat, „unknackbar“ zu sein, und Diktatoren von Lukaschenko bis Xi Jinping die Zornesröte ins Gesicht treibt. Zum Vergleich: Paypal, der führende Online-Bezahldienst, hat gegenwärtig nur 426 Millionen Nutzer. Während Nikolaj als das Programmier-As im Hintergrund wirkt, kommt Pawel als gutaussehender Silicon-Valley-Typ rüber mit aktuellen Lifestyle-Features: Der heute 37jährige trinkt nicht, raucht nicht, ißt kaum Fleisch und hält seinen Körper mit Training in Topform. Das Weltwirtschaftsforum kürte Pawel 2017 zu den Young Global Leaders. Nach Telegram-Angaben via Twitter von 2014 stehen die Firmen-Server dezentral verteilt in London, Singapore und San Francisco.

Der Konzern macht auch in Deutschland Schlagzeilen. Etwa als im Dezember vorigen Jahres bekannt wurde, daß in Telegram-Gruppen ein Mordanschlag auf den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) geplant wurde. Erste Forderungen nach Abschaltung des Dienstes machten die Runde.

„Eine Illusion“, sagt Jonas Müller (Name geändert) der JF. Ein Verbot bringe gar nichts. „Viele etablierte Institutionen nutzen den Dienst doch selbst. Abschalten und blockieren hat schon in Rußland nicht funktioniert und wird hier auch nicht funktionieren. Das ist wie mit der Hydra. Wenn sie einen Kopf verliert, entstehen zwei neue.“

Der 41jährige weiß, wovon er spricht. Er ist das, was man als Computer-Freak bezeichnet. Als seine Freunde im Teenageralter waren, die ersten Kino- und Disco-Besuche anstanden, da bastelte er lieber an seinen Rechnern herum, programmierte, traf sich mit Computer-Nerds. Heute berät er Firmen darüber, wie sie sich gegen Cyberangriffe schützen können.

Mangelnde Verschlüsselung und Intransparenz sind kritisch zu sehen

„Wenn man die Schlagzeilen in den Medien verfolgt, könnte man denken, auf Telegram sind nur irre, haßerfüllte Menschen unterwegs. Dabei sind die meisten stinknormal“, meint Müller. Natürlich ziehe das Wissen um Anonymität durch verschlüsselte Kommunikation auch „Nutzer mit unlauteren Absichten“ an. „Ob die wirklich gegeben ist, möchte ich stark bezweifeln.“

Tatsächlich wird die Vermarktung Telegrams als „sicherer Messenger“ unter Fachleuten schon seit längerem kritisiert. Denn: Anders als bei den Konkurrenten WhatsApp oder Signal ist eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nur optional („Geheimer Chat“) und in Gruppenchats oder Geschäftsanwendungen überhaupt nicht möglich. Die Kontoeinrichtung ist nur mit Telefonnummer möglich, nicht via E-Mail-Adresse. Und die eigene IP-Adresse wird bei jeder Benutzung erfaßt.

„Der sichere Datenschutz-Alptraum“, „Privatsphäre? Ist nicht!“ und „quasi komplett nackig“ zerpflückte heise online 2020 das Telegram-eigene Image. Neben dem Genannten kritisierte der Fachdienst noch, daß sämtliche Nachrichten bereits beim Eintippen an die Telegram-Server gesendet und dort gespeichert werden ebenso wie das gesamte Chat-Archiv einschließlich Entwürfe. Dort können die Daten dann von Telegram-Mitarbeitern, von Beamten mit Durchsuchungsbefehl oder Hackern ausgelesen werden. Technisch steht der Nutzung der Daten für das Anzeigen personalisierter Werbung ähnlich Facebook oder für andere Zwecke nichts entgegen.

Mit der mangelnden Transparenz als weiterem Kritikpunkt hat es auch die Bundesregierung zu tun. Bei dem Unternehmenssitz in den Al Kazim Towers in der Sheikh Zayed Road von Dubais Internet-City handelt es sich um eine reine Briefkastenadresse. Der dort aufgeführte Ansprechpartner Aleksandr Stepanow war einst Generaldirektor des russischen Unternehmens Telegraph LLC, welches zu einem Netzwerk weiterer Briefkastenfirmen Durows gehört.

Telegram LLC wurde über eine Registrierungsagentur im US-Bundesstaat Delaware angemeldet. Unter anderem fungierte sie als Anbieter der Telegram-App. Für die werden immer wieder neue Unternehmen als Ansprechpartner ausgewiesen. Etwa die Firma Telegram Messenger LLP. Neben Tausenden weiterer Firmen ist sie unter der Londoner Adresse eines Unternehmens registriert, dessen Hauptsitz auf den Seychellen beheimatet ist. Dessen Gesellschafter sind die Firmen Telegraph Inc. mit Sitz im mittelamerikanischen Staat Belize sowie Dogged Labs Ltd. auf den Britischen Jungferninseln in der Karibik.

Ein Versteckspiel, das für Pawel Durow Gründe hat. Und die liegen in der repressiven Politik des Kremls. 2006 hatte er gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaj die Firma VKontakte gegründet. Ein Unternehmen, das als Facebook Rußlands gilt und sich zur führenden Online-Plattform im russischsprachigen Raum mauserte. Als im Dezember 2011 in Rußland mehr als 100.000 Menschen auf die Straßen gingen, um nach den Duma-Wahlen gegen mutmaßliche Wahlfälschungen zu protestieren, hatten sich kremlkritische Gruppen über die Internetseiten von VKontakte organisiert.

Durow erhielt darauf ein Schreiben vom Inlandsgeheimdienst FSB. Er sollte mehrere öffentliche Seiten von Kremlkritikern schließen. Der Firmenchef ignorierte den Brief. Wenige Tage später, so stellt es Durow dar, sei eine schwer bewaffnete Spezialeinheit der Polizei vor seinem Haus in St. Petersburg erschienen und begehrte Einlaß. Er habe nicht geöffnet und twitterte statt dessen den Brief sowie das Bild eines Hundes in Kapuzenpulli, der die Zunge herausstreckt.

„Wenn ausländische Seiten frei betrieben werden dürfen, die russischen hingegen zensiert werden, dann wird das russische Internet langsam sterben“, kritisierte Durow. Ein Vorfall, der bei ihm zur Gründungsidee von Telegram führte.

2013 beginnt er jedoch, den Machtkampf über VKontakte zu verlieren. Die Investmentfirma United Capital Partners (UCP) des Unternehmers und Vorstandsmitglieds der staatlichen Ölgesellschaft Rosneft, Ilja Schtscherbowitsch, erwirbt ohne Wissen Durows 48 Prozent der Anteile von VKontakte. Weitere 40 Prozent hatte der Internet-Gigant mail.ru des aus Usbekistan stammenden Oligarchen Alischer Usmanow in seinen Besitz gebracht. Beide gelten als kremlnah.

Um Telegram zu gründen, flieht er gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaj nach Buffalo in den US-Bundesstaat New York, erkauft sich zudem für 250.000 Euro die Staatsbürgerschaft der Karibik-Inselföderation St. Kitts und Nevis. Sein Ziel: den neuen Messenger-Dienst besser vor den Staatsmächten schützen. Inzwischen ist Pawel auch französischer Staatsangehöriger.

Parallel zum Telegram-Erfolg steht Durow bei VKontakte zunehmend vor dem Aus. Als er sich 2014 weigert, die Telegram-Seiten ukrainischer Protestgruppen und die des Oppositionspolitikers Aleksej Nawalnyj zu blockieren, wird der Druck zu groß. Sicher nicht ganz freiwillig muß er seinen verbliebenen Anteil von zwölf Prozent an VKontakte verkaufen – ausgerechnet an den Vorstandsvorsitzenden des russischen Telekommunikationsanbieters MegaFon, Iwan Tawrin, einen Partner von Usmanow.

Mit Telegram hingegen findet Durows libertärer Kampf gegen den Staat nicht mehr nur in Rußland statt, wo die Kommunikationsaufsicht Ros­komnadzor versuchte, seine App zu blockieren. Auch China und Saudi-Arabien blockieren die App, im Iran ist der Dienst komplett verboten, zeitweise auch in Indonesien. In Weißrußland muß mit Gefängnis rechnen, wer auch nur einen Kanal des Messengerdienstes abonniert hat.

Wo die Server stehen, wer sie betreibt – im Prinzip unklar

Vorgänge, die erklären, warum Durow weltweite Versteckspiele betreibt und das Leben eines Digitalnomaden führt. Was ihm mit VKontakte widerfuhr, soll kein zweites Mal geschehen. Oberste Priorität hat für ihn der Schutz seines Kronjuwels: das Vertrauen der Nutzer, daß kein Staat der Welt Zugriff auf die Nutzer-Kommunikation von Telegram erhalten könne.

Doch der russische Investmentfonds UCP ließ nicht locker: Er erhob auch Anspruch auf die Eigentumsrechte der Telegram-App. 2014 führte er einen Rechtsstreit gegen Durow um die App. Das Ziel: Übernahme von Telegram durch VKontakte. Die Argumentation des Investors: Durow habe Telegram entwickelt, als er noch Chief Executive Officer (CEO) bei VKontakte war. Zudem sei die App mit Geldern der Anteilseigner von VKontakte finanziert worden.

Angeblich ist der Rechtsstreit im November 2014 beigelegt worden. Ausgang: unbekannt. Durch den Mangel an Transparenz ist nicht klar, wer bei Telegram nun die Fäden zieht. Glaubt man Durow, so ist die Unabhängigkeit des Dienstes nach wie vor gewährleistet. Es bestünden keine Verbindungen zu Rußland, auch nicht zu VKontakte, versichert Telegram auf seinen Internetseiten.

Doch daran gibt es Zweifel. Etwa durch die Aussagen des Softwareentwicklers Anton Rozenberg, der als Director of Special Projects zwischen 2014 und 2017 über die Briefkastenfirma Telegraph LLC an Telegram gearbeitet hatte und zuvor von 2006 bis 2014 auch für VKontakte tätig gewesen war. Demnach würden im berühmten Singer-Haus am Newski-Prospekt, dem früheren „Haus des Buches“, im Herzen von St. Petersburg Mitarbeiter von Telegram arbeiten, erklärte er 2017, nachdem er die Firma aufgrund eines Streits mit Nikolaj Durow verlassen hatte. Genau dort aber befindet sich die Firmenzentrale von VKontakte, die heute VK.com heißt und sich inzwischen unter der Mehrheitskontrolle von Usmanow befindet.

Brisant: „VK-Mitarbeiter haben seit langem Zugang zu Telegram-Büros“, behauptete Rozenberg gegenüber dem New Yorker Online-Magazin The Outline. Durow bestritt damals, daß Telegram ein Büro in Rußland habe, räumte aber ein, daß Mitarbeiter des Unternehmens in seiner Anfangszeit im Singer-Haus gearbeitet hatten. Das „Team“ sei jedoch 2014 ausgezogen und habe Berlin zum neuen Firmensitz erhoben. Dort findet sich von Telegram jedoch keine Spur. Bei den Berliner Behörden war seinerzeit auch kein Gewerbetreibender mit dem Namen Pawel Durow bekannt. Eine weitere Episode im Telegram-Versteckspiel? Tatsächlich und nüchtern betrachtet ist gänzlich unklar, wer die Telegram-Server wo betreibt – und wer darauf zugreifen kann. Mit dem nun erfolgten Kontakt zwischen deutscher Regierung und Konzernspitze könnte man jedenfalls auch in diesen Punkten für mehr Transparenz sorgen.

Foto: Telegram-Logo: Briefe schreiben ist auch nicht unsicherer, als über den Standard-Chat auf Telegram zu kommunizieren