© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Das Vertrauen schwindet
Staatsgläubigkeit: Auf dem Weg zu einer Willensnation ohne Willen und ohne Nation
Björn Harms

Während das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen bei einem großen Teil der Bevölkerung weiter schwindet, halten die verantwortlichen Politiker unbeirrt am eingeschlagenen Weg fest, der seit Jahren nur eine Richtung kennt: Unter kulturzerstörenden Leitwerten wie Vielfalt, Gleichheit und grenzenloser Selbstbestimmung wird von oben herab eine Willensnation ohne Willen und ohne Nation geschaffen, in der sich die utopistische Sehnsucht der Eliten von der Lebensrealität der meisten Deutschen längst entkoppelt hat. Die „Herrschaft der extremen Mitte“ (Alain Deneault) betäubt ein Land, in dem der Glaube an den Staat und eine wie auch immer geartete Rettung durch ihn für viele Menschen in weite Ferne gerückt ist.

Der einfache Bürger zieht sich ins Private zurück, wagt kaum noch öffentlich zu streiten, wendet sich ab und begnügt sich mit der Feststellung des Lächerlichen. „Wenn ich das Kabinett sehe, habe ich wirklich das Gefühl, es sind Schauspieler aus einer Soap“, spottete jüngst auch TV-Legende Harald Schmidt im Spiegel. Die Enttäuschung und die Unzufriedenheit macht sich jedoch nicht nur im politischen System Deutschlands breit, sondern durchzieht den gesamten Westen. Das im Sommer 1989 prophezeite „Ende der Geschichte“ ist längst in weite Ferne gerückt. Stattdessen lauern Chaos und Niedergang drohend am Horizont. Erstaunlicherweise kann der wirkliche Verdruß kaum bei Wahlen gemessen werden, sondern er blitzt vor allem in spezifischen soziologischen Befragungen auf.

Mitte Januar etwa wurde das „Edelman Trust Barometer 2022“ veröffentlicht, eine Analyse, die nunmehr seit 22 Jahren veröffentlicht wird. Die Studie untersucht jährlich das weltweite Vertrauen der jeweiligen Bevölkerung in ihren Ländern in Regierung, Medien, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Die Ergebnisse für westliche Staaten und insbesondere für Deutschland sind so erstaunlich wie brisant. Während im europäischen und nordamerikanischen Raum das Vertrauen in die Demokratien in den Keller rauscht, steigt der Glaube an autokratische Regierungen in Ländern wie China an. Deutschland hat in der Corona-Krise von 27 untersuchten Ländern den größten Vertrauensverlust zu verzeichnen. Zum einen sank das Vertrauen in die Regierung um spektakuläre 12 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr auf 47 Prozent, dazu sank der Glaube an die Medien um fünf Prozentpunkte auf ebenfalls 47 Prozent.

Den größten Vertrauensvorschuß genießt in allen untersuchten Ländern noch immer die Wirtschaft. Dabei sticht eine Form des Unternehmertums besonders heraus: 67 Prozent der weltweit 36.000 Befragten vertrauen insbesondere kleineren Familienbetrieben. Doch in Zeiten einer globalisierten Welt, in der jene kleinen bis mittleren Unternehmen vom Aussterben bedroht sind und zunehmend durch seelenlose Franchise-Ableger ersetzt werden, wird auch dieser Vertrauensvorschuß früher oder später von der Realität eingeholt werden. Was wiederum den Verdruß über die Politik bestärken wird.

Besonders einschneidend ist das zunehmende Auseinanderstreben von oberen und unteren Schichten, das in der Studie mehr als deutlich wird. Während 62 Prozent der einkommensstärksten Schichten (Top 25 Prozent) den Institutionen in ihrem Staat vertrauen, tun dies nur noch 47 Prozent der einkommensschwächsten (untere 25 Prozent). Diese Vertrauenslücke von 15 Prozentpunkten ist der höchste jemals gemessene Wert. Deutschland steht mit einem Unterschied von 21 Prozentpunkten sogar noch schlechter da.

Der US-Soziologe Jack Goldstone führt Zeiten politischer Instabilität in der gesamtem Menschheitsgeschichte insbesondere auf das rein eigennützige Verhalten der Eliten zurück. Wenn die Wirtschaft mit einem Anstieg der Erwerbsbevölkerung konfrontiert war, der die Löhne drückte, behielt die Elite im allgemeinen einen Großteil des erwirtschafteten Reichtums für sich und widersetzte sich der Besteuerung und der Umverteilung der Einkommen. Der Evolutionsanthropologe Peter Turchin prophezeite dem Westen auf Grundlage dieser Erkenntnis massive Verwerfungen in den 2020er Jahren.

Der Staat schafft letztendlich keine übergreifende Ordnung mehr, sondern agiert unfair. Denn er beschränkt in Zeiten der Energiewende und Massenmigration auch heute untere bis mittlere, zum Teil selbst obere Einkommensklassen, massiv, während das reichste Promill der Bevölkerung – kaum betroffen von den Einschränkungen des Alltags – übermäßig bevorteilt wird. Gleichzeitig nutzen die Eliten die ideologischen Realitäten, um die klassische Rechts-Links-Achse zu umkurven und sich selbst aus der Schußlinie zu nehmen. 

Durch die Übernahme „woker“ Identitätspolitik hat die heutige Oligarchie zunächst die moderne Linke überflüssig gemacht. Auch in den Führungsebenen von Großkonzernen dreht sich alles um Dinge wie Nachhaltigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und Diversität. Da die Mächtigen aber nun zur Reichtumsvermehrung staatliche Regulierungen nutzen – die Corona-Pandemie gleicht einem Goldrausch für die reichsten Milliardäre –, erschöpfen sich auf der anderen Seite viele Liberale und Konservative in ihren ewiggleichen Mahnungen vor dem Sozialismus. Wirklich fundierte Kritik hat die Elite damit nicht mehr zu fürchten. Übrig bleibt eine verzweifelte und zurückgelassene Durchschnittsbevölkerung. Und so ist es auch kaum verwunderlich, wenn laut Edelman-Studie fast zwei Drittel der Befragten glauben, daß „gesellschaftliche Anführer“ absichtlich versuchen, „Menschen in die Irre zu führen, indem sie Dinge sagen, von denen sie wissen, daß sie falsch oder große Übertreibungen sind“.

Das Mißtrauen wird spürbarer, während sich die Vorzeichen des Niedergangs verdichten: Laut einer kürzlich erhobenen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach sind 82 Prozent der Deutschen der Meinung, die Gesellschaft habe sich in den vergangenen Jahren zum Schlechteren verändert. Rund 68 Prozent der Bevölkerung haben das Gefühl, in besonders unsicheren Zeiten zu leben. Der Wert ist damit höher als nach der Finanzkrise 2008 oder nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise Anfang 2016. Es knistert, es brodelt; jeder ahnt, daß die kommenden Jahre dramatische Veränderungen mit sich bringen werden. Doch in welcher Form sie vonstatten gehen, darüber läßt sich nur rätseln.

Den gravierendsten Einschnitt wird wohl der Abgang der Babyboomer-Generation in den kommenden Jahrzehnten nach sich ziehen. Wenn jene Altersgruppe, die wohl das ausgeprägteste historische Verständnis für die Notwendigkeit eines funktionierenden Staatswesens besitzt, nicht mehr da ist, verschwindet auch die wichtigste Generation, die die Bundesrepublik lagerübergreifend ideell und geistig trägt. Der Glaube an die Institutionen ist in dieser Gruppe rechts wie links noch immer weit verbreitet.

Was kommt danach? Junge Rechte verachten schon jetzt einen Staat, der sie dank des milliardenschweren „Kampfs gegen Rechts“ ins existentielle Abseits drängt. Der bundesrepublikanische Mainstream-Konservatismus wird ihnen über kurz oder lang keinen Halt bieten, da er in immer radikaleren Zeiten kaum Perspektiven aufzeigt. Junge Liberale werden in Zukunft noch libertärer werden. „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“, lautet das entsprechende Motto. An eine funktionierende Rente glaubt niemand mehr. Nicht mehr das Sparbuch dient der Absicherung, sondern die Flucht in den Aktienmarkt. Der Staat ist nur mehr ein lästiges Überbleibsel, das verschwinden muß. Den Ausweg sucht man in Privatisierungen.

Die einzig staatstragende Entität findet man somit ironischerweise auf der „woken“ Linken, die das ideologische Korsett im Westen immer enger festzurrt. Lehrer, Journalisten, Politiker und Verwaltungsbeamte bilden jene Kaste, die etwa im Kaiserreich noch von vornehmlich konservativen Elementen getragen wurde. Doch das preußische Ethos, die Sinnhaftigkeit des Dienstes am Staat, blieb bei diesem Wandel auf der Strecke. Junge Linke blicken auf den Staat wie auf einen Kadaver, von dem man die Reste abkratzen kann, um sich selbst am Leben zu halten und andere von den Futtertrögen fernzuhalten. Sie bilden den Nachwuchs jener „eigennützigen Elite“, von der auch der Soziologe Goldstone spricht. 

Der Umgang mit Corona hat jene Verwerfungen nur beschleunigt, tatsächlich existieren sie schon länger. Laut Cambridge-Studie (2020) mit Daten aus 160 Ländern nimmt weltweit die Zufriedenheit der Jugend mit der derzeitigen Demokratie rasant ab (siehe Grafik). In vier Regionen verzeichnen die Studienautoren einen „bemerkenswerten Rückgang“: Westeuropa, Lateinamerika, Afrika südlich der Sahara und in den „angelsächsischen“ Demokratien, darunter Großbritannien, Australien und die USA. Als Hauptgrund für die Unzufriedenheit der „Millennial“-Generation nennt die Erhebung vor allem die ungleiche Vermögenskonzentration. Und eine weitere bemerkenswerte Entdeckung machten die Forscher: „In Ländern, in denen populistische Anführer gewählt wurden, hat sich die Zufriedenheit der Jugend mit der Demokratie erholt.“

Populistische Strömungen, Einzelkämpfer und radikale Gegenentwürfe werden sich unter den heutigen Voraussetzungen tatsächlich häufen. Die Parteienlandschaft wird umgewürfelt werden, der Staat weiter an Autorität verlieren. Zwar funktionieren vielleicht noch die Institutionen. Aber wenn niemand mehr an sie glaubt, niemand ihnen mehr Vertrauen schenkt und sie kein geistiges Fundament haben – dann sind sie bereits am Absterben. Und dann stirbt auf lange Sicht auch der Staat ab.