© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

CD-Kritik: Jean Sibelius – Janne Mertanen
Heilversuch
Jens Knorr

Wer sich mit Jean Sibelius ernsthaft befaßt, kommt an Adornos „Glosse über Sibelius“ schwerlich vorbei. Das sichtlich mit Vitriol geschriebene Pamphlet hatte der Philosoph 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht. Wenn er aber, gemessen an Materialfortschritt und Fortschritt der musikalischen Ausformung von Bach bis Schönberg, dem finnischen Komponisten „Originalität der Hilflosigkeit“ bescheinigt und über dessen Versuche höhnt, „mit den alten und verfallenen Mitteln Neues auszusprechen“ – legt Adorno da eine taugliche Meßlatte an?

Ihre vermeintliche Unwahrheit in klingende Wahrheit zu überführen, macht die Schwierigkeit der Interpretation aus. Der finnische Pianist Janne Mertanen (*1967) hat bereits 2015 die von Sibelius publizierten Kompositionen für Klavier eingespielt und sich nun dessen frühen Arbeiten zugewandt.

Gewiß finden sich sowohl in den sechs Volkslied-Arrangements als auch in den zu Studienzwecken oder aus konkretem Widmungsanlaß komponierten Stücken viel epigonales Getöne, delikate Wendung neben ungenießbarer Floskel. Aber Mertanen spielt die privaten Stücke nicht schlechthin nur als Motiv- und Werkzeugkiste für reifere Arbeiten; er hält Statik und Bewegung spannungsvoll in der Schwebe, ohne je die musikalische Substanz zu überfordern.

Die musikalische Welt, die Sibelius hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuren Riß, und der teilte sich dem großen Schweiger vor der Moderne in vielen kleinen Rissen mit. Mertanen gibt Sibelius’ Heilversuche nicht auf.

Sibelius Finnische Volkslieder und Entdeckungen Sony Classical 2021

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