© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Im Dienste der Wahrheit
Gegen Cancel Culture im universitären Raum: Die Universität Hamburg gibt sich einen „Kodex Wissenschaftsfreiheit“
Paul Leonhard

Neben der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit garantiert Artikel 5 des Grundgesetzes auch die Wissenschaftsfreiheit. Daß „Wissenschaft, Forschung und Lehre“ frei sind, ist aber längst kein fester Grundpfeiler der deutschen Verfassung mehr, seit eine kleine, aber von den Massenmedien unterstützte linke Kaste versucht, den Staat nach eigenem Gustus neu auszurichten und vor diesem laufenden Prozeß warnende Stimmen und Andersdenkende auszugrenzen.

Wie wichtig dieses Thema für den Erhalt der Demokratie in Deutschland insbesondere in den Traditionen des Volksaufstandes vom Herbst 1989 in der DDR ist, zeigt die bereits 2019 von der Max-Planck-Gesellschaft angestoßene und von einer Allianz der Wissenschaftsorganisationen initiierte Kampagne „Freiheit ist unser System. Gemeinsam für die Wissenschaft“, die in Veranstaltungen, Reden, Debatten und Meinungsbeiträgen die unabhängige Arbeitsweise von Forschung und Lehre anmahnte.

Schon damals zeichnete sich ab, daß Einschränkungen und Einflußnahmen vielerorts an Boden gewinnen. Wissenschaft ist aber eine methodische Suche nach der Wahrheit. Wissenschaftler müssen die Freiheit haben, nach Lösungen zu suchen, nach der Wahrheit zu streben und ihre Erkenntnisse in ihrer Forschung, Lehre und im Diskurs weiterzuvermitteln, schreibt Robert Quinn, Executive Director des Scholars at Risk Network, in einem Essay anläßlich des fünfjährigen Jubiläums der Philipp-Schwartz-Initiative 2021 über die Bedeutung von Wissenschaftsfreiheit: Diese sei unverzichtbar, „weil sie einer wahrheitszerstörenden Tendenz von Autoritäten entgegengerichtet“ ist.

Den Ausschluß unliebsamer Ansichten darf es nicht geben 

Quinn warnt davor, daß Autoritätsinstanzen versuchen könnten, der Suche nach Wahrheit Grenzen zu setzen, um ihre eigene „Stellung, Autorität oder Ideologie zu schützen und skizziert ein Szenario, bei dem sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure der wissenschaftlichen Forschung ihre Legitimität absprechen: Wissenschaftler, die außerhalb der genehmigten Kanäle forschen, würden dann als „Feinde“ des Staates, des Glaubens oder der Gemeinschaft bezeichnet und „unter dem Deckmantel unklarer und breit gefaßter Gesetze, etwa zu Verleumdung, Volksverhetzung und sogar der Terrorbekämpfung“, verfolgt und in Verruf gebracht und damit die Wahrheit selbst.

Die Universität Hamburg hat jetzt deutschlandweit für Aufsehen gesorgt, indem sie sich einen „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ gegeben hat. Danach dürfen Personen nicht wegen ihrer inhaltlichen Positionen diffamiert werden, und es darf keine Versuche geben, Veranstaltungen und Forschungsformate zu stören oder zu blockieren. Ausschlüsse von Wissenschaftlern von öffentlichen Debatten aufgrund unliebsamer Ansichten dürfe es nicht geben, sagt der Rechtswissenschaftler Hans-Heinrich Trute, der die Kommission zur Erstellung des elf Thesen umfassenden Kodex geleitet hat.

In dessen Präambel heißt es, daß Praktiken wie die Störung mißliebiger Vorlesungen oder Seminare, die Verweigerung wissenschaftlicher Auseinandersetzung aufgrund von politischen oder religiösen Einstellungen, die Ausübung politisch motivierten Drucks auf Wissenschaftler, die Delegitimierung wissenschaftlicher Themen oder Gegenstände, die fehlende Bereitschaft, sich mit Vorstellungen und Inhalten, die als unbequem oder bedrohlich empfunden werden, auseinanderzusetzen, aber auch strukturelle, manchmal subtile und informelle Einflußnahme aus wissenschaftsfremder Perspektive kurzfristige Erfolge versprechen mögen, langfristig aber die Hervorbringung neuen Wissens, das für moderne Gesellschaften unverzichtbar ist, bedrohen.

Damit räume die Universität Hamburg als erste deutsche Hochschule ein, daß „es Cancel Culture im universitäten Raum gibt“, konstatiert die Neue Zürcher Zeitung und stellt den – naheliegenden – Zusammenhang zu den Anfeindungen her, denen zwei Hamburger Professoren, AfD-Mitgründer Bernd Lucke und der Physiker Roland Wiesendanger, ausgesetzt waren. Trute nannte als Beispiele jedoch den Fall der Philosophie-Professorin Kathleen Stock, gegen die jahrelang eine Hetzkampagne betrieben wurde, oder die Forderung nach „Trigger Warnings“ in der Lehre. Es habe viele weitere Vorfälle gegeben, so daß die Erstellung eines Kodex als notwendig erachtet wurde.

Weil „Cancel Culture und Political Correctness die freie und kontroverse Debatte auch von Außenseiterpositionen vielerorts an den Universitäten zum Verschwinden gebracht“ haben, gründete sich im Februar 2021 das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit als Verein. Der Zusammenschluß von mehr als 600 Hochschullehrern und Wissenschaftlern setzt sich für ein freiheitliches Wissenschaftsklima ein: „Darunter verstehen wir eine plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur und ein institutionelles Umfeld, in dem niemand aus Furcht vor sozialen und beruflichen Kosten Forschungsfragen und Debattenbeiträge meidet.“

Auch dürfe niemand gezwungen werden, in wissenschaftlichen Publikationen, offizieller Korrespondenz, universitären Gremien und Internetauftritten, in Lehrveranstaltungen, akademischen Prüfungen sowie in Bewerbungs-, Berufungs- und Akkreditierungsverfahren Formen geschlechterinklusiver Sprache zu verwenden. Niemandem dürfe eine als geschlechterinklusiv deklarierte Sprache aufgenötigt werden, die nicht den Regeln der deutschen Rechtschreibung entspricht.

Die „verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre soll unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden“, beobachten die Netzwerker. Einzelne würden vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele beanspruchen, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit werde der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren: „Wer nicht mitspielt, muß damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.“

Genau dem baut der Hamburger „Kodex“ jetzt vor, indem er vorschreibt, Lösungen für Konflikte im argumentativen Diskurs zu suchen. Studenten müssen lernen, andere Positionen zu ertragen und sich mit ihnen auseinandersetzen, Dozenten dies vorleben. „Die Universität hält deshalb den Freiraum kritischer Auseinandersetzung auch dort offen, wo die demokratische Öffentlichkeit aufgrund eingespielter Überzeugungen empfindlich oder gar empört auf Infragestellung reagiert.“ Der „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ soll wie der bereits 2017 beschlossene „Kodex Religionsausübung“ im Leitbild der Universität verankert werden.

 www.uni-hamburg.de

 www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de

Foto: Universität Hamburg: Der Einflußnahme aus wissenschaftsfremder Perspektive widersetzen