© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Rußland, die Ukraine-Krise, die Nato und die langfristigen deutsch-europäischen Interessen
Bloß nicht zwischen allen Stühlen
Stefan Scheil

Greift Wladimir Putin nun an oder nicht? Und wenn er angreift, wen? Nur die Ukraine oder gleich noch die baltischen Länder oder Polen? Seit Wochen könnte man meinen, sich in den Jahren 1939 oder 1941 zu befinden. Damals räsonierte auch die gesamte Weltpresse vor dem Kriegsbeginn in Polen oder der Sowjetunion darüber, was denn nun die wechselseitigen Truppenansammlungen an den Grenzen bedeuten sollten. Das geriet später in Vergessenheit. Man sprach statt dessen von deutschen „Überfällen“ und redete die Stationierung von fünf Millionen Sowjetsoldaten 1941 an der Westgrenze ebenso klein, wie man heute einhunderttausend russische Soldaten ebendort zur Weltgefahr hochschreibt.

Die Ukraine jedenfalls sei aktuell bedroht, ist allerorten zu hören. Sie brauche Beistand und Waffenlieferungen. Ihre Bürger üben angeblich sogar mit Holzgewehren den Kampf gegen die Invasion; das brachte die hiesige Lokalpresse in dieser Woche auf die Titelseite, auf daß der Leser auch den richtigen Eindruck des Mangels und der Entschlossenheit bekomme.

Auf der anderen Seite stehen viele, die hier eine Aggression des Westens sehen, die von den Massenmedien in ihr Gegenteil verkehrt werden soll. Von seit 1990 gebrochenen Versprechen ist die Rede, zum Beispiel einer unhaltbaren Ausdehnung der Nato nach Osten, entgegen mündlichen Zusagen. Es ist allerdings ein Rätsel, warum selbst manche Völkerrechtler auf diesen Punkt insistieren. Mündliche Absprachen in Hinterzimmern sind für kommende Regierungen nicht bindend, nicht für fremde Staaten bestimmend, und schon gar nicht für solche, die es zum Zeitpunkt dieser Gespräche gar nicht gegeben hat (Litauen usw.). Natürlich sind Gespräche und darin geäußerte Absichtserklärungen wichtig, aber nicht auf Dauer und für alle Nachfolgeregierungen. Man stelle sich vor, Deutschland müßte sich für alle Zeit an alles halten, was Angela Merkel als Regierungschefin bei Konferenzen mit dem Ausland mündlich zugesagt hat. Das ist absurd.

Des weiteren ist von einem westlich gesteuerten Putsch in der Ukraine die Rede. Und von ebenfalls westlicher, insbesondere amerikanischer Heuchelei, mit der für osteuropäische Länder eine freie Bündniswahl gefordert werde, die die USA ihrerseits den Ländern vor der eigenen Haustür niemals zugestehen würden.

Halten wir erst einmal fest: Letzteres trifft zu. Der sowjet­russische Versuch, auf Kuba ebensolche Raketen zu stationieren, wie sie die USA in Europa und Kleinasien plaziert hatten, führte vor sechzig Jahren bekanntlich an den Rand des dritten Weltkriegs. Man braucht auch nicht viel Phantasie, um sich die heutige amerikanische Reaktion auszumalen, sollte etwa Mexiko aus irgendwelchen Gründen einem chinesisch geführten Militärbündnis beitreten wollen. Freie Bündniswahl existiert nicht, der Abschluß von Bündnissen ist bestenfalls eine weltpolitische Verhandlungssache und das Ergebnis stets abhängig von Interessen und Machtverhältnissen.

An diesem Punkt kommt dann die Nato ins Spiel, das westliche Militärbündnis. Aus Rußland wird seit langem dessen Auflösung zur Diskussion gestellt. Die Nato sei ein Anachronismus des Kalten Krieges und habe ihren Sinn als Verteidigungsbündnis verloren, nachdem der von der Sowjetunion dominierte Warschauer Pakt 1991 aufgelöst worden sei. Auch diese Position wird hier im Lande von manchen geteilt, aber sie verkennt in bedeutenden Punkten die Ursprünge des Bündnisses.

Die Nato wurde keineswegs als bloßer Gegenpol zum 1955 gegründeten Warschauer Pakt konzipiert. Sie ist mit ihrem Gründungsdatum 1949 sogar um Jahre älter als dieser Pakt und hatte für Europa den bekannten dreifachen Zweck, „die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten“ zu halten, wie ihr damaliger Generalsekretär Lord Ismay salopp zusammenfaßte. Alle diese drei Zwecke erfüllt sie im Prinzip auch weiterhin, unabhängig von der Existenz eines Gegenbündnisses. Insofern gibt es für ihre Initiatoren keinen Grund, sie aufzulösen.

Es stellt sich vor diesem Hintergrund und den weltpolitischen Entwicklungen seit 1949 allerdings die Frage, wie die deutschen Interessen in diesem Zusammenhang zu sehen sind. Mir persönlich sind bei den ganzen hitzigen Diskussionen, die man derzeit zu diesen Ostfragen hat, vor allem folgende Punkte wichtig:

Die aktuelle Krise geht in der Tat hauptsächlich vom Westen aus. Wladimir Putin will gegebenenfalls militärisch verhindern, daß die Ukraine ihre abtrünnigen Ostgebiete oder gar die Krim zurückerobert. Wenigstens für den erstgenannten Fall wäre die ukrainische Armee inzwischen wohl stark genug, und davon wird in Kiew ja auch recht offen gesprochen. Begleitet wird dies von lebhaften westlichen Versicherungen, auf dem ukrainischen Gebietsbestand von 1994 zu bestehen. Das Szenario ähnelt insofern dem Georgienkrieg von 2009. Als dort die georgische Regierung mit westlicher Unterstützung einen von Rußland wohlwollend als Separatistenstaat Ossetien etablierten Teil Georgiens zurückerobern wollte, griffen reguläre russische Streitkräfte ein und verhinderten das. Dies könnte sich in der Ukraine wiederholen.

Rußland verteidigt also den territorialen Status quo, der allerdings kein völkerrechtlicher Status quo ist. Strenggenommen gehören sowohl die Krim als auch der Donbas weiterhin zur Ukraine, deren „existierende Grenzen“ Rußland schließlich selbst 1994 im sogenannten „Budapester Memorandum“ anerkannt hat. Darin wurde unter internationaler Beteiligung sowohl des Westens als auch Chinas die neue Lage nach dem Zerfall der Sowjetunion festgeschrieben, unter anderem auch der Verzicht der Ukraine auf ihre aus Sowjetzeiten dort lagernden Atomwaffen.

Angemessenes realpolitisches Handeln könnte darin bestehen, Rußland diesen Status auch juristisch oder wenigstens de facto zuzugestehen. Über diesen Weg könnte eine dauerhafte Entspannung möglich sein, denn es kann kein Zweifel daran bestehen, daß insbesondere die Krim von absolut vitalem Interesse für Rußland ist, will es seinen Platz in der Welt erhalten. Um diesen Platz wird es kämpfen, wenn es muß.

Ein bloßes Beharren auf völkerrechtlichen Verbindlichkeiten in bezug auf die Krim führt dagegen nicht nur gegenüber Rußland in die Sackgasse, sondern hat auch Rückwirkungen auf westliche Positionen andernorts. Davon betroffen ist nicht nur der hypothetische Fall Mexiko, sondern der höchst konkrete Fall Taiwan. Dessen völkerrechtlicher Status als abtrünnige, von den USA gestützte chinesische Provinz ähnelt höchst beunruhigend dem der abtrünnigen Ostukraine. Wer die Krim und den Donbas mit Verweis auf Völkerrecht zurückhaben will, wird sich überlegen müssen, mit welchen Argumenten er den längst laut erhobenen Anspruch Chinas auf Taiwan noch zurückweisen will.

Zugleich ist es aber auch im deutschen Interesse, daß Rußland grundsätzlich als eigene Macht tatsächlich „draußen“ bleibt und die Ukraine langfristig in Richtung eines Europas der Nationen orientiert wird. Insofern sind die Nato und eine hoffentlich gründlich reformierte Europäische Union zu gegebener Zeit dahin auszudehnen. Zugleich kann es in diesem Europa der Nationen keinerlei russische Einflußzonen und Einschränkungen von Souveränitätsrechten von Ländern wie Litauen oder Bulgarien geben. Solche Forderungen werden aus Moskau aktuell gestellt, wie auch weitere Grenzverletzungen nicht ausgeschlossen werden. Wo der russische Präsident höchstpersönlich zur Feder greift und über die „historische Einheit von Ukrainern und Russen“ schreibt, da müssen logischerweise die Alarmglocken schrillen. Wenn sich die europäische Völkerfamilie weltpolitisch behaupten und gegenseitig vertrauen will, kann sie niemanden ausgrenzen und durch dritte Mächte fremdbestimmen lassen.

Das führt zu dem heiklen Punkt, inwieweit die euro­päischen Staaten und Deutschland im Zentrum derzeit überhaupt in der Lage sind, eigenbestimmt zu handeln. Das ist erkennbar nur eingeschränkt der Fall, allenfalls über den Grad der Einschränkung läßt sich streiten. Das ändert allerdings nichts an der grundsätzlichen Diagnose. Eine deutsche Schaukelpolitik, die neben den europäischen und westlichen Verpflichtungen mit einem Sonderverhältnis zu Rußland liebäugelt, führt in die innereuropäische Isolation und spaltet die europäische Staatenwelt. Letztlich zum Schaden der deutschen Position, die wieder einmal zwischen allen Stühlen enden könnte.

Ob Deutschland dann in einer Konstellation, in der Rußland als außenstehende Macht zu behandeln wäre, noch „unten“ bliebe, das wäre eine Frage täglicher Realpolitik, die mit europäischen Partnern anzugehen wäre. Ein wirklich enges Bündnis wirtschaftlicher, politischer und militärischer Natur könnte und sollte aus europäischen Partnern bestehen. Langfristig sollten die deutsche und die europäische Politik darauf hinarbeiten, daß sowohl die Russische Föderation als auch die USA in einem Europa der Vaterländer keine militär-strategische Rolle mehr spielen. Damit wäre dann auch schließlich und endlich die Situation bewältigt, die überhaupt erst zu den Szenarien von 1914 bis 1945 geführt hat: das scheinbar unaufhaltsame Vordringen der Randmächte Vereinigte Staaten von Amerika und Rußland nach Europa hinein.






Dr. Stefan Scheil, Jahrgang 1963, ist Historiker und Publizist. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher über die internationalen Beziehungen der Weltkriegsära. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Fall Wieluń 1939 („Die Vorwürfe sind falsch“, JF 36/19).

Foto: Nationalgardisten halten eine 100 Meter lange ukrainische Flagge, die während einer Zeremonie am 22. Januar durch die Straßen von Uschhorod getragen wird: In einem Europa der Nationen kann es keinerlei Einschränkungen von Souveränitätsrechten geben