© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Einer mußte die Dinge in die Hand nehmen
Die Flutkatastrophe im Februar 1962 an der deutschen Nordseeküste und in Hamburg / Wie Innensenator Helmut Schmidt als Krisenmanager brillierte
Michael Dienstbier

Auch wenn die nackten Zahlen niemals das gesamte Ausmaß einer Katastrophe verdeutlichen können, sind sie einer ersten Annäherung durchaus dienlich. Zwischen 287 und 345 Menschen verloren ihr Leben, als in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 die Sturmflut auf Hamburg traf – die meisten ertranken in ihren Häusern. Ein Sechstel der gesamten Stadt stand unter Wasser, 20.000 Einwohner wurden vorübergehend obdachlos. 40.000 Helfer waren an der in den Morgenstunden anlaufenden Rettungsaktion beteiligt, 1.100 Menschen konnten noch aus höchster Not gerettet werden. Die durch den Orkan Vincinette ausgelöste Sturmflut traf die gesamte Nordseeküste, und doch war es die etwa hundert Kilometer im Landesinneren gelegene Stadt Hamburg, die die meisten Opfer und Schäden zu beklagen hatte. Neben der mangelnden Qualität der dortigen Deiche und städtebaulichen Besonderheiten hatte das auch viel mit nicht funktionierenden Kommunikationswegen, technischen Fehlern, einem trügerischen Gefühl von Sicherheit und dem anstehenden Wochenende zu tun.

Die Wetterlage war schon seit vielen Wochen angespannt. Bereits am 12. Februar traf eine erste Sturmflut auf die Nordseeküste, die jedoch glimpflich ablief. Vier Tage später, einem Freitag, veröffentlichte das Deutsche Hydrographische Institut mit Sitz ausgerechnet in Hamburg um 20 Uhr eine weitere Sturmflutwarnung, ohne aber von einer Gefahr für die Stadt auszugehen. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich zwei Stunden später herausstellen sollte. Mit der sich weiter verschlechternden Wetterlage und der Drehung des Windes auf Nordwest wurde ein Ablaufen der mittäglichen Haupttide weitgehend gebremst, so daß die Ebbe-Wasserstände am frühen Abend des 16. Februars vielerorts der Höhe eines normalen Fluthochwassers entsprachen. Um 22 Uhr brach der erste Deich in der Küstenstadt Cuxhaven, die zugleich an der Elbmündung gelegen ist, deren Trichterwirkung eine massive Flutwelle verursachte, die elbaufwärts auf Hamburg zurollte. So kurz vor dem Wochenende waren die Behörden nicht mehr besetzt, und Telefonleitungen sowie Sirenenanlagen funktionierten nicht, so daß niemand vorgewarnt war, als gegen 1.15 Uhr in den Morgenstunden des 17. Februar die ersten Deiche im Hamburger Süden brachen und die Menschen vor allem im besonders betroffenen Stadtteil Wilhelmsburg im Schlaf von den Wassermassen überrascht wurden.

Schmidt nutzte seine Kontakte zur Bundeswehr und zur Nato

Die Sturmflut von 1962 ist untrennbar mit dem Namen Helmut Schmidt verbunden. Ikonisch geworden sind Aufnahmen des späteren SPD-Bundeskanzlers, wie er im Hubschrauber sitzend über der überfluteten Stadt kreist, um die Rettungsaktionen zu koordinieren. Dabei war Schmidt als damals amtierender Innen- und Polizeisenator gar nicht der Erstverantwortliche in einer Krise wie dieser. Da Bürgermeister Paul Nevermann aber erkrankt auf Kur in Österreich weilte, war es Schmidt, der um 6.20 Uhr informiert wurde, um das Heft des Handelns an sich zu reißen. Das Wirken Schmidts in den nun folgenden Stunden formulierte sein Biograph Harald Steffahn 1990 bewundernd wie folgt: „Es ist wie ein Krieg in einem Armeehauptquartier, das laufend Einzelmeldungen über schwere Feindeinbrüche empfängt, aber die Gesamtlage nur erahnen kann. Wie dort der Generaloberst improvisieren muß, mit dem Instinkt für möglichst wirkungsvolle Befehle zur Stabilisierung der Front, genauso verfuhr der einstige Batteriechef Schmidt ohne die Lehrzeit in den höheren Stäben.“ 

Schmidts Verdienste in dieser Krise sind unbestritten. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses des Bundestages nutzte er seine Kontakte zum Militär und kontaktierte direkt den Nato-Oberbefehlshaber in Brüssel Lauris Norstad, der ihm 90 Hubschrauber und zahlreiche Sturmboote zur Verfügung stellte. 8.000 Bundeswehr- und 4.000 Nato-Soldaten unterstanden nun direkt seinem Kommando. Sowohl Bundeswehroffiziere als auch die Behörden akzeptierten die Befehlsgewalt Schmidts, die sich aus der Eigendynamik des Ausnahmezustandes entwickelt hatte. Daß ihm als ehemaligem Leutnant der Wehrmacht das Führen und Befehlen durchaus im Blute lag, kam ihm hier sicherlich zupaß. Das bekam auch Paul Nevermann zu spüren, der im Laufe des Tages von seiner Kur zurückeilend in Hamburg eintraf. Mit den seitdem verbreiteten Worten „Paul, halt dein Maul, du störst hier“, machte Schmidt ihm klar, wer jetzt das Sagen hatte.

2018 rüttelte der Historiker Helmut Stubbe da Luz gewaltig am Mythos Helmut Schmidt als Retter Hamburgs in der Not. „Schmidt war nicht der Held“, sagte er in einem Interview mit der Hamburger Wochenzeitung Zeit. Als er in den Morgenstunden des 17. Februar in der Hamburger Polizeibehörde eintraf, hätten der Hamburger Polizeidirektor Martin Leddin und Otto Grot, Kommandeur der Schutzpolizei, bereits ganze Arbeit geleistet und die Rettungsaktion in die Wege geleitet. Somit sei Schmidts Aussage: „Es waren lauter aufgeregte Hühner – und einer mußte die Dinge in die Hand nehmen“, eine an Arroganz kaum zu überbietende Anmaßung gegenüber den Verantwortlichen der ersten Stunden. Schmidt habe von deren Arbeit profitiert, diese dann aber erfolgreich fortgeführt, wie auch da Luz zugesteht. Dennoch kommt er zu dem Schluß, daß die Geburtsstunde des Krisenmanagers auch die Geburtsstunde des Selbstdarstellers Helmut Schmidt gewesen sei. Dazu gehöre auch der von Schmidt selbst propagierte Mythos, sich in der Stunde der Not nicht um das Grundgesetz geschert zu haben. Damit bezog er sich auf den von ihm ignorierten, angeblich strikt verbotenen Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Dieses war allerdings bereits seit 1958 durch eine Dienstvorschrift des Verteidigungsministeriums aufgeweicht, die einen Einsatz der Bundeswehr innerhalb der Landesgrenzen bei begrenzten Katastrophen durchaus zuließ.

Für die Schicksalsgemeinschaft wirkte es identitätsstiftend

Am 21. Februar gedachte die Hamburger Bürgerschaft in einer Schweigeminute der Opfer der Sturmflut. Fünf Tage später kamen über 150.000 Menschen zur Trauerfeier auf dem Rathausmarkt zusammen. Eine positive Nachwirkung der Katastrophe war das Entstehen eines Gemeinschaftsgefühls in Hamburg, das wie viele Städte und Orte im Nachkriegsdeutschland mit denselben Problemen zu kämpfen hatte. Die Aufnahme von Millionen Heimatvertriebener aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten führte zu vielen Spannungen, wie der Historiker Andreas Kossert in seinem 2008 erschienenen Buch „Kalte Heimat“ überzeugend dargelegt hat. Die Sturmflut verstärkte das Bewußtsein, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein, und wirkt in Hamburg und Umgebung bis heute identitätsstiftend. Als direkte bauliche Konsequenz wurden die Deiche erhöht und verstärkt. Mit Erfolg, wie sich in der Jahrhundertflut von 1976 zeigen sollte. Obwohl das Wasser einen Meter höher auflief als 1962, hielten alle Deiche bis auf einen dem Druck stand.

Naturkatastrophen im allgemeinen und Flutkatastrophen im besonderen haben in Deutschland gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer auch politische Implikationen gehabt. In der Sturmflut erwarb sich Helmut Schmidt den Ruf eines Machers, der mit dazu beitrug, daß er 1974 Kanzler werden konnte. 2002 schien die rot-grüne Regierungskoalition nach nur einer Legislatur vor der Abwahl zu stehen, als das Elbehochwasser gut einen Monat vor der Wahl besonders die neuen Bundesländer traf. Gerhard Schröder besuchte medienwirksam in grüner Regenjacke Orte vor allem in Sachsen, wohingegen sein CSU-Herausforderer Edmund Stoiber sich nur in Bayern blicken ließ. Am Ende wurde das Duo Schröder/Fischer denkbar knapp im Amt bestätigt. Die SPD lag in den neuen Bundesländern bei starken Stimmenzuwächsen am Wahltag über elf Prozent vor der CDU, so daß hier ein Zusammenhang vermutet werden darf. 

Und Armin Laschets von den Fernsehkameras aufgenommener Lacher bei einer Rede des Bundespräsidenten zum Gedenken an die Todesopfer der Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli vergangenen Jahres ließ die Zahlen der CDU in den Keller rauschen und trug mit zum Aufstieg Olaf Scholz’ und der SPD bei. Der Ausnahmezustand übt weiterhin einen unwiderstehlichen Reiz auf machtbewußte Politiker aus. Wer sich hier bewährt, den kann es bis ins Kanzleramt tragen. In Friedenszeiten beschränkt sich dieser fast ausnahmslos auf Naturkatastrophen und Terroranschläge. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Flut Politikerkarrieren beendet oder befördert.

Fotos: Bundeswehrsoldaten retten Hamburger Bürger aus ihren überfluteten Häusern, 17. Februar 1962:  „Paul, halt dein Maul, du störst hier“; Überschwemmtes Hamburg-Wilhelmsburg: Niemand war vorgewarnt worden; Hamburgs Innensenator Helmut Schmidt bei der Verleihung von Verdienstmedaillen an Bundeswehr-soldaten, Dezember 1962: Instinkt für richtige Befehle