© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Aussichtsloser Kampf gegen den Lärm der Moderne
Vertreibung der Stille
(ob)

Für den Wiener Kulturhistoriker Peter Payer birgt der „einmalige Feldversuch“ der Corona-Pandemie die Chance, den Lärmpegel der Industriegesellschaft dauerhaft zu senken. Denn bisher sei die „Sehnsucht nach Stille im technischen Zeitalter“ noch nie so befriedigt worden wie in der Lockdown-Pause (Forschung & Lehre, 1/2022). Seit Ende des 19. Jahrhunderts erzielten bürgerliche Initiativen gegen den „ungeheuerlichen Lärm“ kaum nachhaltige Wirkung. Den Auftakt machte 1906 die New Yorkerin Julia Barnett Rice mit ihrer „Society fort the Suppression of Unnecessary Noise“. Ihr folgte 1908 der Philosoph Theodor Lessing mit einem „Antilärmverein“. Andere Wege des Lärmschutzes suchte der Berliner Apotheker Max Negwer, der 1907 „Ohropax“ erfand. Die Aussichtslosigkeit solcher Abwehrmaßnahmen sieht Payer nicht allein in der Dynamik kapitalistisch entfesselter Produktivkräfte. Vielmehr riefen laute Geräusche in den kulturellen Deutungsmustern der Moderne positive Assoziationen hervor, weil sie Aktivität, Fortschritt, Wohlstand signalisierten. Zudem sei Lärm lange Privileg der Mächtigen gewesen, während die Unterschichten stets im Verdacht standen, die soziale Ordnung lautstark stören zu wollen. Die wahre „Vertreibung der Stille“ (Rüdiger Liedtke) wurde jedoch erst in der „Konsumära“ nach 1945 perfektioniert. 


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