© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Brasilianisch in die Irre führen
Eine Kunstinstallation am Stuttgarter Hauptbahnhof erinnert an eine Tarnmaßnahme gegen alliierte Bombenangriffe bis 1943
Hubert Grosser

Die Stuttgarter Bürger  meiden am Montagabend das Autofahren rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof und die Innenstadt. Einheimische wissen nämlich, daß es jeden Montagabend ab 18 Uhr zu Demonstrationen gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 kommt und Straßensperrungen und sonstige Behinderungen den Verkehr in der Stuttgarter Innenstadt erheblich einschränken.  Die Gegner dieses Infrastrukturprojekts, im Moment eine der größten Baustellen in Deutschland, halten eisern durch, und schafften es bisher, bei über 550 Montagsdemonstrationen ihren Unmut kundzutun.

Schon kurz nach der Vorstellung des Projektes im Jahr 1994 entwickelte sich in der sonst beschaulichen Landeshauptstadt von Baden-Württemberg Widerstand gegen das Bauvorhaben.  Die Proteste hatten ihren Höhepunkt, als durch einen massiven Polizeieinsatz gegen Baumbesetzer im Stadtgarten, dem erwarteten Baufeld, einige Demonstranten schwer verletzt wurden. Folge dieses „Schwarzen Donnerstags“ war eine Schlichtung zwischen den Demonstranten, der Deutschen Bahn, der Stadt und anderen Interessengruppen. Der Kompromiß der Verhandlungen war ein Volksentscheid Ende November 2011 in ganz Baden-Württemberg, bei dem eine Mehrheit von knapp 59 Prozent jedoch einen Ausstieg aus dem Projekt ablehnte. Einige der hartnäckigsten Gegner des Zukunftsprojektes sitzen in der Zwischenzeit in der Landesregierung und müssen mit knirschenden Zähnen die Baumaßnahmen bis 2025 zu einem Erfolg führen.

Viele Stuttgarter Bürger haben sich vor kurzem gewundert, was der große rote Schriftzug „Brasilien“ über dem Nordeingang des Bahnhofes mit Stuttgart 21, den aktuellen Baumaßnahmen und der futuristischen Architektur der unterirdischen Bahnsteige zu tun hat. Hinter der Aktion steckt die Stuttgarter Künstlergruppe SOUP (Stuttgarter Observatorium Urbaner Phänomene), die sich zum Ziel gesetzt hat, das Geschehen um Stuttgart 21 mit einer „künstlerischen Langzeitbeobachtung“ zu begleiten. Das Erfahrene und Gesehene wird dann in Ausstellungen, Aktionen und Publikationen der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.

Was bedeutet nun der Schriftzug des südamerikanischen Landes zwischen den Baukränen und Baugerüsten? Interessierte und verwunderte Beobachter erfahren: „Brasilien war der Tarnname einer Attrappe des Stuttgarter Hauptbahnhofes und seines Gleisvorfeldes, die als Scheinanlage von 1940 bis 1943 in der Nähe von Lauffen am Neckar alliierte Luftangriffe auf sich ziehen sollte.“ Warum mußte gerade das beschauliche Weindörfchen Lauffen den Kopf für die Landeshauptstadt hinhalten. Die Lage erschien den Planern durch die Ähnlichkeit der Flußschlinge bei Lauffen, mit dem Neckarverlauf bei Bad Cannstadt, Vorort von Stuttgart, geeignet, um die britischen Bomber in die Irre zu führen. Der ehrwürdige Bahnhofsbau des Architekten Bonatz wurde dort mit Attrappen aus Holz, Sackleinen, Strohmatten und Backsteinen nachgebaut. Da die Luftangriffe meistens nachts erfolgten, erweckten installierte Lichtmasten den Eindruck von beleuchteten Gleisanlagen. Künstliche Lichtblitze sollten fahrende Straßenbahnen vortäuschen. Rund um das künstliche Bauwerk wurden rund 50 Flakstellungen und 30 Scheinwerferanlagen installiert. Diese sollten eine weitere Täuschung darstellen und den Flugzeugbesatzungen die Bedeutung der Wichtigkeit des Zieles vor Augen führen.

Die Stuttgarter Tarnmaßnahmen täuschten viele alliierte Bomber

Bis Ende 1943 erfüllte der Potemkinsche Bahnhof seine Rolle. Insgesamt werden im Kriegstagebuch des Luftwaffenkommandos VII über 1.200 Abwürfe festgehalten. Davon waren über 200 Sprengbomben und rund 1.000 Brandbomben. Die letzten zwei Jahre des Krieges ließen sich die Bomberpiloten von der Scheinanlage nicht mehr an den falschen Ort des Abwurfes ihrer tödlichen Fracht leiten. Moderne Radargeräte in den Flugzeugen führten die Maschinen danach mit tödlicher Genauigkeit zum richtigen Ziel.

Daß die Lauffener für die Stuttgarter den Kopf hinhalten mußten, eine Reihe von Bomben verfehlten die Attrappe und brachten Tod und Zerstörung in das beschauliche Weindörfchen, veranlaßte 1958 den damaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett, sich offiziell bei den Lauffenern zu bedanken. 

Schon im Jahr 2012 hatte die Gruppe SOUP im Stuttgarter Rathaus eine Ausstellung zu diesem historischen Ereignis aufgebaut. Durch das Anbringen des Schriftzuges „Brasilien“ möchten die Künstler eine erneute Diskussion über das Bauprojekt und die Querelen zu Stuttgart 21 anstoßen. Es hilft aber alles nichts. Das Projekt wird, trotz Verzögerungen und erhöhten Kosten, ein neuer architektonischer Hingucker in der Stadt zwischen Wald und Reben. Es könnte vielleicht sogar dazu kommen, daß die Stuttgarter auf ihren neuen Hauptbahnhof genauso stolz sein werden wie die Hamburger auf die Elbphilharmonie.

Foto: Baustelle des Stuttgarter Hauptbahnhofs mit „Brasilien“-Kunstinstallation: Das beschau-liche Weindörfchen Lauffen mußte für die schwäbische Großstadt den Kopf hinhalten