© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/22 / 11. Februar 2022

Lieber Hobbes als Rousseau
Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz seziert anhand philosophischer Denker die Macht der Moral in der Politik, die er als unheilvoll einordnet
Marcel Waschek

Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Muß Politik moralisch sein, oder sollte sie sich aus solcherlei Befindlichkeiten heraushalten? Ist die Politik gar auf die Unmoral angewiesen, um funktionieren zu können? Fragen, die sehr aktuell erscheinen, auch wenn Niccolò Machiavelli bereits in der Frühen Neuzeit darüber nachdachte. Wie aber entwickelt sich das Verhältnis von Moral und Politik seit dem in dieser Hinsicht sehr pragmatisch veranlagten Florentiner? Welche Rolle in der Politik schreiben verschiedene abendländische Denker der Moral zu? Ist der Mensch, wenn auch grundsätzlich nicht schlecht, so doch zum Schlechten verleitet und braucht den Staat, der ihn in die Schranken weist, oder ist der Mensch von Geburt an zum Guten hingezogen und wird lediglich durch äußere Umstände schlecht? Wobei in diesem Fall der Staat notfalls mit Zwang den Menschen zu seiner guten Natur zurückführen müsse. In seinem Buch „Keine Macht der Moral“ geht der konservative Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz diesen Gedanken nach.

Die Polis, der in der politischen Philosophie so häufig referenzierte antike griechische Stadtstaat, ist der Kontrast, den Bolz gegen die anderen Denker, die er behandelt, ins Feld führt. In der Polis sei der Mensch in seiner Natur aufgegangen. Bolz interpretiert wie Aristoteles den Menschen als

Zoon politikon, also als Wesen, dessen Natur auf das Leben in der Polis ausgerichtet ist. Da sich der Polisbürger weitgehend mit seinem Stadtstaat identifiziere, sei sein moralisches und pragmatisches Handeln auch gleichzeitig das des Staates. Laut Bolz nutze der Bürger in der Polis kein konstruiertes Menschenbild, sondern handle aufgrund der in der Polis selbst erfahrenen Maximen. Daher stellt sich die Frage nach abstrakter Moral und abstraktem Staatspragmatismus nicht. 

Bolz’ folgt in dieser Hinsicht deshalb eher pragmatischen Philosophen wie Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Max Weber oder Carl Schmitt. Die Gemeinsamkeit ihrer Staatsentwürfe sei von der grundsätzlichen Bereitstellung von Sicherheit gekennzeichnet, die durch den Staat garantiert wird. Die Aufgabe des Staates bestehe neben seiner nackten Selbsterhaltung vor allem darin, seine Bürger nötigenfalls mittels Gewalt oder deren Androhung davon abzuhalten, Unheil auszuüben. Auf und innerhalb dieser Grundlage könne der Bürger dann aber frei nach seinem Gutdünken handeln. Diese Sichtweise führt dann sogar dazu, daß Bolz in Hobbes’ „Leviathan“ einen liberalen Staatsentwurf sieht. Ein Exkurs über die Aggression soll das näher erklären. Diese sei im Menschen als Trieb angelegt, wie Sigmund Freud festgestellt habe, der gleichzeitig die Kultur als Bändigung des Aggressionstriebes beschreibt. Eine politische Aggression, so Bolz, sei besonders bei den sich als gut verstehenden Menschen ausgeprägt. Denn diese wollten nicht einfach nur möglichst gut existieren, sondern hätten auch das Bedürfnis, das, was sie als gut empfänden, anderen aufzuzwingen, um diese ebenfalls ins vermeintlich Gute zu führen.

Moralische Aufladung der Politik führte zur Raserei der Jakobiner

Jean-Jacques Rousseau ist für Bolz einer dieser „Guten“, denn er habe als aufklärerischer Geist danach gestrebt, das Gute im Menschen hervorzubringen. Bolz definiert Rousseau deshalb als einen politischen Moralisten, der notfalls mit Zwang den Menschen zum Guten bringen wolle. Nicht nur die Jakobiner hätten sich später dieser Geisteshaltung bedient. Rousseau steht für ihn damit im Gegensatz zu Hobbes. In dieser unheilvollen Tradition sieht Bolz heutige woke Protestbewegungen und NGOs, deren bevorzugte Waffe die Emotionalisierung und Moralisierung politischer Fragestellungen ist.

Norbert Bolz schafft es, anhand seiner Theorie  in knapper Form komplexe Gedanken der abendländischen politischen Philosophie darzustellen, auch wenn er teilweise deren Weltsicht sehr robust für seine Argumentation einspannt. Inwieweit die Einschätzung von Hobbes als Liberalen und Rousseau als Protototalitaristen gerechtfertigt ist, sei dahingestellt. Rousseau als Urvater des „grünen“ und „roten Sozialismus“ anzusehen, scheint vielleicht etwas eindimensional. Zumal sowohl rechte totalitäre Politiker und Denker als auch sich als deliberative Demokraten Verstehende in dem Genfer einen geistigen Vater sehen wollten. Auch sind die von Hobbes bis Schmitt vorgestellten Staatsentwürfe keineswegs moralbefreit, sondern sehen ihre moralische Pflicht in der Selbsterhaltung und Sicherheit ihrer Bürger. 

Norbert Bolz: Keine Macht der Moral! Politik jenseits von Gut und Böse. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021, broschiert, 175 Seiten, 15 Euro

Foto: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Thomas Hobbes, Max Weber und Jean-Jacques Rousseau: Das Unheil vermeiden oder das Gute erzwingen