© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Den bittersten Preis zahlt Kiew
Kriegstrommeln und deutsche Klugheit: Warum es Zeit für die Korrektur eines Fehlers der Nato ist
Bruno Bandulet

In den vergangenen Tagen sah es so aus, als rechne Washington mit einem Krieg in Eu­ropa. Am Freitag abend konferierte Joe Biden per Video mit den wichtigsten Verbündeten und nannte den 16. Februar als möglichen Termin für einen russischen Angriff auf die Ukraine – das wäre der Tag nach dem Besuch des deutschen Bundeskanzlers diese Woche in Moskau gewesen.

Wenn Kriegstrommeln geschlagen werden, muß deswegen kein Krieg bevorstehen. Ausgeschlossen werden kann jedenfalls, daß Wladimir Putin beabsichtigt, die Ukraine zu erobern und zu besetzen oder Nato-Mitglieder in Osteuropa anzugreifen. Die Ängste der baltischen Staaten sind historisch bedingt subjektiv verständlich, aber ohne objektive Grundlage.

Sollte Rußland bis zum Frühjahr die Truppen in ihre Standorte zurückverlagern, werden EU und USA dies als Erfolg ihrer Sanktionsdrohungen hinstellen. Zu Unrecht, denn selbst umfassende Sanktionen würden Rußland zwar schädigen, aber nicht ruinieren. Schon die nach dem Anschluß der Krim verhängten Strafmaßnahmen haben sich als kontraproduktiv erwiesen: der Kreml stieß seine Dollaranlagen ab, baute die Devisen- und Goldreserven aus und forcierte die Autarkie der Wirtschaft. Er machte sich resilient. Am härtesten würde ein Ausschluß vom belgischen Zahlungssystem Swift den russischen Außenhandel treffen. Das inzwischen gegründete eigene „System für den Transfer von Finanzmitteilungen“ könnte für längere Zeit nur partiellen Ersatz bieten.

Und das Erdgas? Ohne die russischen Importe würden die Räder in Deutschland stillstehen. Vergleichbare Mengen an teurem Flüssiggas stehen nicht zur Verfügung, auch nicht aus den USA. Bereits gegen den Röhrendeal der Regierung Willy Brandt opponierte Washington, damals vergeblich. Eine deutsch-russische Partnerschaft besonders auf dem Energiesektor zu verhindern, ist eine Konstante der amerikanischen Geopolitik seit den sechziger Jahren. Jetzt wird Nord Stream 2 symbolisch aufgeladen. Konsequent zu Ende gedacht und um Rußland finanziell auszuhungern, müßten dann auch Nord Stream 1, die Jamal-Pipeline durch Polen, die Transgas-Pipeline durch die Ukraine und die Turkstream-Pipeline durch das Schwarze Meer abgeschaltet werden. Dann säße die gesamte EU auf dem trockenen. Der Erdgashandel eignet sich aus amerikanischer Sicht, nicht aber aus europäischer für den Aufbau einer Drohkulisse.

Sympathien für erpresserische Militärmanöver und für die innenpolitischen Verhältnisse in Rußland sollte in Deutschland niemand aufbringen. Aber, nebenbei bemerkt haben wir es mit einer Großmacht zu tun, die nichts von Deutschland will: keine neuen Reparationen so lange nach dem Weltkrieg, keine Haftung für fremde Schulden, keine Zuschüsse für Kriegskosten. Als sich die Regierung Schröder weigerte, die Bundeswehr in den Irak zu schicken, mußte sie sich mit hohen Milliardenzahlungen freikaufen. Auch der damalige Außenminister Guido Westerwelle wurde als unzuverlässiger Verbündeter auf die Anklagebank gesetzt, weil er die Beteiligung am Luftkrieg gegen Libyen ablehnte. Er hatte vollkommen recht. Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 war es Deutschland zusammen mit Frankreich, das gegen die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in das nordatlantische Bündnis opponierte. Die Formulierung, die die Amerikaner dennoch durchsetzen konnten, lautete: „Diese Länder werden Mitglieder der Nato werden.“

Es war nur ein Aufschub und damit eine gefährliche Annäherung an die rote Linie, die der Kreml immer unmißverständlich gezogen hatte. Und es war ein verhängnisvoller Fehler, wie neuerdings auch Leute wie der Historiker Michael Stürmer oder Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz, feststellen. Sie müßten jetzt aber auch zugestehen, daß die Mittelmacht Deutschland, ein militärisches Leichtgewicht, in geopolitischen Fragen mehr als einmal mehr Verstand und Klugheit bewiesen hat als die sich selbst so verstehende „einzige Weltmacht“.

Wenn das Vorhaben, die Nato bis weit über den Dnjepr hinaus zu expandieren, erst einmal als falsch erkannt ist, dann wäre der Verzicht darauf ein erster Baustein für eine Friedensordnung in Europa. Der Abzug der Iskander-Raketen aus Ostpreußen, die Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015, Abrüstungsmaßnahmen und das Ende der westlichen Sanktionen könnten folgen. Dies alles unter der plausiblen Annahme, daß Wladimir Putin nicht va banque spielt, sondern als Rationalist handelt. Auch der im Westen gut gelittene, weil schwache Boris Jelzin legte Protest ein, als die Clinton-Regierung Mitte der neunziger Jahre auf die Nato-Osterweiterung zu drängen begann. Der Westen hat mit Putin kein Personalproblem im Kreml, die Grundlinien der russischen Außenpolitik blieben auch unter seinem Nachfolger dieselben.

In der vergangenen Woche stellte Foreign Affairs, das Organ des Council on Foreign Relations, einen Aufsatz des Chicagoer Professors John J. Mears­heimer online. Er datiert vom Herbst 2014. Mearsheimer schrieb damals, der Westen trage die Hauptverantwortung für die Eiszeit, die mit der Angliederung der Krim an die Russische Föderation ausgebrochen war. Er bezeichnete den Sturz des prorussischen, demokratisch gewählten Präsidenten in Kiew im Februar 2014 als „Staatsstreich“. Er zitierte Victoria Nuland, im Außenministerium zuständig für Europa und bekannt für ihre Invektive „Fuck the EU“, mit der Aussage, die USA hätten seit 1991 über fünf Milliarden Dollar in den Regimewechsel investiert. Er stellte die Frage, wie Washington wohl reagieren würde, sollte China versuchen, Mexiko und Kanada in eine Militärallianz aufzunehmen.

Den bittersten Preis für das Projekt Westintegration haben die Ukrainer selbst bezahlt. Die engen wirtschaftlichen Verbindungen mit Rußland wurden zerrissen, das Land verarmte, das vorher gute Miteinander von zwei Dritteln der Bevölkerung mit Ukrainisch als Muttersprache und einem knappen Drittel von Russischsprachigen wurde zerschlagen. Die Ukraine wurde zum Kostgänger milliardenschwerer Finanzhilfen aus dem Westen, nicht zuletzt aus Deutschland.

Im Grunde hat der skrupellose Machtpolitiker Putin sein Ziel fast schon erreicht: Die Aufnahme dieses strategischen Schlüssellandes in die Nato ist nicht mehr durchsetzbar; Amerika macht sich für den Schützling stark, ohne für ihn kämpfen zu wollen oder zu können. Wenn der Beschluß von Bukarest auf dem Nato-Gipfel von April 2008 ein Fehler war, sollte er korrigiert werden.