© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Kaiser, Cut, Klamauk
Christian Vollradt

Keine leichte Aufgabe für die über 1.400 Mitglieder der Bundesversammlung am vergangenen Sonntag: den richtigen Platz zu nehmen. Schließlich fand die Wahl des Bundespräsidenten diesmal im eigens dafür hergerichteten Paul-Löbe-Haus und nicht im Plenarsaal des Bundestags statt. Dort hätte es zu wenig Abstand für zu viele Leute gegeben. Der Sitzplan umfaßte fünf Doppelseiten mit Grafiken. Wer das Pech hatte, in einem der Ausschußsäle weilen zu müssen, mußte die Veranstaltung am Bildschirm verfolgen.


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Erinnerte die Bestuhlung im Foyer mehr an Kreissparkasse Pinneberg als an Parlament, paßte die Kleiderwahl der Delegierten auch nicht immer zur Würde des Anlasses. Der Anzug ohne Krawatte hat sich ja eh etabliert. Für Christopher-Street-Day-Atmosphäre sorgten eine promovierte Rapperin im Mini-Kleid und weißen Latex-Overknee-Stiefeln sowie ein Travestie-Künstler mit Regenbogenglitzer-Bluse und rosa Umhang. Da mußten sich eine Schauspielerin mit Baseball-Kappe oder ein Pulli tragender Bundestrainer für nichts rechtfertigen. Positive Gegenbeispiele: das Mitglied einer Freiwilligen Feuerwehr in Ausgehuniform, Brigadegeneral Jens Arlt, der den Evakuierungseinsatz am Flughafen von Kabul geführt hatte, im Dienstanzug und Schwester Maria Hanna, Generaloberin eines Franziskanerklosters, im Habit. Spitzenreiter in Sachen angemessener Kleidung: Hamburgs Bürgerschaftsabgeordneter Krzysztof Walczak (AfD), der im Cutaway erschien – wie früher zu besonderen Anlässen im Bundestag üblich.  


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Das Protokoll sagt: je höher, desto später. Erst kurz vor Beginn der Bundesversammlung trifft der Bundeskanzler ein. Mit Blaulicht rauscht Olaf Scholz im gepanzerten Mercedes mit dem amtlichen Kennzeichen 0-2 an. Erst kurz danach, ganz zum Schluß, entsteigen Frank-Walter Steinmeier und Gemahlin dem Audi mit der 0-1 und dem Stander des Bundespräsidenten. Würde man die Ankunftszeit vom Sonntag auf die bundesdeutsche Hierarchie übertragen, wäre Schlager-Barde und Sozialdemokrat Roland Kaiser der dritte Mann im Staate. Er betrat das Löbe-Haus nur drei Minuten vor Scholz’ Ankunft.


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Bei der AfD herrscht beim Zählappell fast so etwas wie Klassentreffen-Stimmung. Zum zweiten Mal ist die Partei Teil einer Bundesversammlung. Bei der Premiere 2017 stellte sie – noch ohne Bundestagsfraktion – 35 Delegierte. Nun waren fast hundert mehr anwesend; einige, die vor fünf Jahren dabei waren, sind jedoch gar nicht mehr in der Partei … Damals bekam AfD-Kandidat Albrecht Glaser übrigens auch sieben Stimmen von anderen.