© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Selenskyjs Erfindungen
Ukraine: Alle schauen auf die Ostgrenze. Doch wie sieht es im Land selbst aus?
Joseph Mathias Roth

Die Attentäter paßten das Fahrzeug von Serhij Schefir wenige Kilometer südlich von Kiew ab. Sie schossen schnell, aber nicht sonderlich präzise. Schefir blieb unverwundet, während sein Fahrer schwer verletzt wurde. Schefir ist ein enger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und kommt wie der Präsident selbst und viele andere seiner engsten Mitarbeiter aus der Filmbranche. Der Anschlag ereignete sich im September 2021, nur einen Tag bevor ein von Selenskyj beschlossenes Gesetz durch das ukrainische Parlament abgesegnet wurde. Das Gesetz sieht vor, daß Oligarchen keine Parteien finanzieren und nicht an großen Privatisierungen teilnehmen dürfen. Das Gesetz war von veschiedenen Oligarchen und Unternehmern scharf kritisiert worden. Kritiker werfen dem Präsidenten vor, nur gegen ihm unliebsame Oligarchen vorzugehen.

Die wirtschaftliche Lage hat sich weiter verschlechtert

Im November 2021 wurde daraufhin die Print­redaktion der angesehenen englischsprachigen Kyiv Post geschlossen. Offensichtlich gefiel dem Verlagsbesitzer Adnan Kiwan die regierungskritische Berichterstattung der Redakteure nicht. „Schon 2018 hat Kiwan mich aufgefordert, meine Kritik an der Regierung zu reduzieren, weil er unter Druck gerate und keine Probleme mit der Regierung haben wolle“, berichtet Reporter Oleg Suchow, der seit 2014 bei der Kyiv Post arbeitete.

Anfang vergangenen Jahres hatte Selenskyj zudem drei russischsprachige Sender verboten, da sie angeblich terroristische Aktivitäten finanziert hätten. Sie standen indirekt unter Kontrolle des Oligarchen Wiktor Medwedtschuk. Dieser pflegt Kontakt zum russischen Präsidenten Putin. Sehr wahrscheinlich war genau dies auch der Grund für das Verbot, denn wirkliche Beweise für die Terrorfinanzierung wurden von der Regierung nie vorgelegt. Serhij Tomilenko, der Chef des ukrainischen Journalistenverbandes, kritisierte die Entscheidung: „Die Sender dürfen nicht außergerichtlich gesperrt werden. Dies darf nur im Rahmen einer gesetzlichen Prozedur geschehen.“ Doch der Schließung lag keine Entscheidung eines Gerichts zugrunde.

Auch der frühere Präsident Petro Poroschenko droht zu einem Opfer von Selenskyjs Kampf gegen Oligarchen zu werden. Poroschenko steht vor Gericht, da er in seiner Amtszeit Geschäfte mit den Separatisten in der Ostukraine gemacht haben soll. Angeblich war er am illegalen Ankauf von Kohle aus den Separatistengebieten beteiligt. In seiner Zeit als Präsident war Poroschenko allerdings ein scharfer Kritiker Moskaus.

Laut der Anklageschrift soll er Wiktor Medwed­tschuk geholfen haben, der den Kohledeal eingefädelt hatte. Poroschenko weist die Vorwürfe zurück und bezeichnet sie als „Erfindung Selenskyjs“. Das Verhältnis zwischen den beiden ist bereits seit dem Präsidentschaftswahlkampf sehr negativ, als Poroschenkos Wahlkampfteam Selenskyj als drogenabhängig bezeichnete.

Vor allem beim Kampf gegen Corona ist die ukrainische Führung wenig erfolgreich. Das Land ist weiter Hochrisikogebiet und hat 109.000 Todesfälle zu beklagen. Die wirtschaftliche Lage hat sich durch die Pandemie weiter verschlechtert. Das Bruttoinlandsprodukt lag 2021 bei 4.400 Dollar pro Kopf und damit deutlich niedriger als bei den Nachbarn Rußland und Polen. Der monatliche Durchschnittslohn lag 2021 brutto gerade mal bei 450 Euro. Da in Polen und Rußland die Durchschnittslöhne deutlich höher sind, arbeiten viele Ukrainer in diesen Nachbarländern oder in Westeuropa.

Bereits bei seinem Amtsantritt 2019 hatte Präsident Selenskyj den Ukrainern versprochen, den Lebensstandard deutlich zu verbessern. Dieses Versprechen hat er bisher nicht einmal ansatzweise einlösen können. Nach einem Einbruch von vier Prozent 2020 wuchs die Wirtschaft zwar 2021 wieder mit 3,4 Prozent. Für 2022 wird ein Wachstum von 3,6 Prozent erwartet. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Misere des Landes sind diese Wachstumsraten allerdings nicht ausreichend, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben.

Die ukrainische Soziologin Ksenija Gatskova kritisiert in einem Beitrag für die „Ukraine-Analysen“ der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen: „Durch ambitionierte Modernisierungen wollte Präsident Wolodymyr Selenskyj die ökonomische Lage der Ukraine deutlich verbessern. Doch nach zwei Jahren im Amt ist davon nichts zu spüren.“ Gatskova moniert eine „chaotische Finanzplanung“ und eine „schwer nachvollziehbare Personalpolitik“.

Rigides Sprachengesetz ist nicht überall willkommen

Bereits im Juni 2019 hatte die ukrainische Regierung ein Sprachengesetz verabschiedete, das vorschreibt, in öffentlichen Einrichtungen ukrainisch zu reden. In Geschäften, Apotheken oder Banken müssen die Angestellten ukrainisch sprechen, wenn die Kunden es verlangen. Die Regelung ist nach einer Übergangszeit im vergangenen Monat in Kraft getreten. Die Vorschriften sind vor allem für Bewohner in der Süd- und Ostukraine problematisch. Dort ist Russisch für die meisten Menschen die Hauptsprache, auch für viele ethnische Ukrainer.

Überregionale Zeitungen müssen nun immer auch auf ukrainisch erscheinen. Das bedeutet, daß eine bisher auf russisch erscheinende Publikation jetzt parallel auch eine ukrainische Ausgabe in gleicher Auflage anbieten muß. Da dies unrentabel ist, wird die letzte russischsprachige Zeitung des Landes Westi nun nur noch auf ukrainisch erscheinen. Andere russische Zeitungen sind inzwischen ausschließlich online zu lesen. 

Mit der Sprachenpolitik und dem Verfahren gegen Poroschenko will Selenskyj offenbar von seiner sehr mäßigen Bilanz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ablenken. Gleichzeitig agiert er immer intoleranter gegen Kritiker im eigenen Land. Der ukrainische Politologe Wolodymyr Ischtschenko sagt: „Die Krise der politischen Repräsentation entwickelt sich weiter – mitsamt ihren tödlichen Gefahren in einem wirtschaftlich und geopolitisch so fragilen Land.“

Foto: Ex-Präsident Petro Poroschenko spricht in Kiew zu seinen Anhängern: Er weist den Vorwurf, Hochverrat begangen zu haben, zurück