© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Widerstand gegen den Zeitgeist
Literatur: Michel Houellebecqs neuer meisterhafter Roman „Vernichten“ überrascht mit bislang unbekannten Facetten des französischen Großschriftstellers
David Engels

Ein „neuer Houellebecq“ ist immer ein ganz besonderes Ereignis, nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland. Gerade in Deutschland erfreut sich der französische Schriftsteller Michel Houellebecq einer ganz besonderen Wertschätzung, wenn diese auch freilich im Laufe der letzten Jahre aus mehreren Gründen zunehmend ins Wanken geraten ist: Auf der einen Seite wäre da die offensichtliche Tatsache, daß die deutsche Öffentlichkeit im Laufe der langen Kanzlerschaft Angela Merkels in geradezu spektakulärer Weise nach links gerückt ist; auf der anderen Seite tritt die konservative Grundhaltung des 65jährigen Houellebecq, die man lange als „ironisch“ oder „satirisch“ kleingeredet hat, immer klarer und unmißverständlicher in den Vordergrund, wie sie sich unlängst in Houellebecqs kulturpessimistischen Überlegungen anläßlich der Annahme des ersten „Oswald-Spengler-Preises“ niederschlug. Und so schrieb die Zeit denn auch in ihrer Rezension des neuen Werks „Vernichten“ am 13. Januar: „Houellebecq ist ein reaktionärer Autor. Aber sein neuer Roman ist trotzdem ein erschütterndes Meisterwerk“ – als ob künstlerische Qualität „normalerweise“ ausschließlich der politischen Linken vorbehalten wäre …

Zynische Verkrustungen zwischen Politik, Medien und Lobbys

„Vernichten“ ist in der Tat ein weiteres, schlagendes Beispiel dieser geistigen Entwicklung des Schriftstellers, und interessanterweise schlägt sich diese Evolution diesmal nicht nur inhaltlich nieder, sondern auch formal. Inhaltlich steht „Vernichten“ ganz in der Kontinuität der politischen Themen der beiden Vorgängerromane „Soumission“ und „Sérotonine“; ja ist vielleicht noch erheblich politischer, spielt doch ein Großteil des Werks im Inneren eines französischen Ministeriums und im Kontext einer künftigen Präsidentschaftswahl: Paul Raison, Absolvent einer Elitehochschule, arbeitet als Spitzenbeamter im Wirtschaftsministerium und ist ein Vertrauter des Präsidentschaftskandidaten Bruno Juge bei der Wahl 2027. Als im Internet ein Video auftaucht, das die mögliche Hinrichtung von Juge zeigt, wird Raison mit der Aufgabe betraut, den Urheber des Videos ausfindig zu machen. Doch während seiner Nachforschungen kommt es in Frankreich zu einer Serie mysteriöser terroristischer Anschläge …

Wer auch immer einen Einblick in die unappetitlichen und zutiefst zynischen Verkrustungen zwischen Politik, Medien und Lobbys westlich des Rheins sucht, ist bei „Vernichten“ bestens aufgehoben. Auch die enormen Spannungen innerhalb der französischen Gesellschaft sowie der stark ausgeprägte, in Deutschland (noch) undenkbare und offen zur Schau getragene „reaktionäre“ katholische Widerstand gegen den Zeitgeist und seine spannungsreiche Beziehung zum „Rassemblement National“ (vormals Front National) sind erneut zentrale Elemente in der Narration.

Aber es ist vor allem im formalen Bereich, daß „Vernichten“ neue Maßstäbe innerhalb des Houellebecqschen Œuvres setzt. Freilich bleibt der Autor seinem Markenkern treu, und man wird auch hier die üblichen misogynen, pornographischen, xenophoben und sonstigen Randbemerkungen finden, die der Leser von Houellebecq erwartet. Aber wenn Provokation ursprünglich die Essenz seines Werkes zu sein schien, ist sie nunmehr zum aufgesetzten Glanzlicht geworden. Denn in „Anéantir“ wandelt Houellebecq sich zum Epiker, ja fast schon zum Klassiker. Mit über 600 Seiten setzt der Schriftsteller völlig neue Maßstäbe im Vergleich zu den erheblich kürzeren Vorgängerromanen, und auch der Text selbst ist im Vergleich zur bisherigen Lakonie des Autors erheblich dichter, durchgearbeiteter und detailreicher. An die Stelle der üblichen, geradezu metaphysischen „Leere“ des Stils und der Handlung tritt hier eine echte, mit vielen Nebenhandlungen verwirrend vielfältige „comédie humaine“, die keineswegs bloßes schmückendes Beiwerk ist oder, wie in einer Rezension des Online-Journals Mediapart unterstellt, „des propos odieux en mode crème“, sondern bewußte Konstruktion. Denn anstatt die vielen Fäden am Ende zusammenzuführen, läßt Houellebecq sie bewußt ausfasern und schrittweise verblassen, um somit das eigentlich Wichtige hervorzuheben, gegenüber dem alles Äußere, selbst das Geschick Frankreichs, sich als peripher und nichtig herausstellt – die Liebe zwischen den beiden Protagonisten.

Patriotische Katholiken führen ein verbissenes Rückzugsgefecht

Dies bezeichnet aber einen fundamentalen Wandel in Houellebecqs üblichem emotionalen Pessimismus: Während es bisher zur Konstante seiner Romane zählte, die Unmöglichkeit echter Liebe im Zeitalter der „Ausweitung der Kampfzone“ zu betonen, findet das ursprünglich auseinandergelebte Ehepaar, das im Mittelpunkt der Handlung steht – eben der besagte Beamte Paul Raison und seine Frau Prudence – unter der Belastung der tödlichen Erkrankung des Protagonisten allmählich wieder zusammen und erlebt einen letzten kurzen Nachsommer des Glücks, dessen vorsichtige Zartheit zum Schönsten zählt, was Houellebecq je geschrieben hat.

Davon untrennbar ist der religiöse Gehalt des Buchs. Noch stärker als vorher tritt der Katholizismus als eigentlicher Gehalt der kulturellen Identität und seelischen Werte des Abendlands hervor, so daß es die patriotischen Katholiken sind, die als wahre und leider auch letzte echte Franzosen ein verbissenes Rückzugsgefecht um das Überleben ihrer Zivilisation führen. Gleichzeitig tritt aber mit dem Buddhismus ein neues Element in das Werk Houellebecqs ein, das nicht ohne Grund gut zur geistigen Spätzeit unserer heutigen Zivilisation paßt: zu aufgeklärt und ernüchtert, um trotz aller Sympathie die ausgefeilten theologischen Dogmen der Frühlingsjahre des christlichen Abendlands aus ganzem Herzen teilen zu können, und doch getragen von dem nagenden Gefühl, daß der stumpfe Hedonismus und Materialismus der Gegenwart nicht die ganze Antwort sein kann.

Somit ist es neben der zur transzendenten Konstante erklärten Liebe die Hoffnung auf ein Fortbestehen jener Kraft auch über den Tod hinaus, mit welcher der Roman abschließt, mit dem Houellebecq Zugang zu einer gänzlich neuen und doch ganz in der Kontinuität seiner bisherigen Entwicklung stehenden Sprache gefunden hat. Man darf gespannt sein, in welche neuen Richtungen das Tor, das er hier aufgestoßen hat, ihn leiten wird.

Michel Houellebecq: Vernichten. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2022, gebunden, 624 Seiten, 28 Euro