© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Ja, die Liebe hat braune Flügel
Musikgeschichte: Georges Bizets Opéra comique „Carmen“ als Sittenbild aus dem nationalsozialistischen Deutschland
Jens Knorr

Kunstwerke gehen durch die Zeiten, wie die Zeiten durch die Kunstwerke gehen. Mit den transitorischen Künsten verhält es sich so: Das Kunstwerk ist die Aufführung. Was an alten Bedeutungsschichten nicht abgegolten ist und was sich ihnen an neuen angelagert hat, fördern ihre Interpreten zutage – die reflektierten unter ihnen bewußt, die andern unbewußt oder gar nicht. Aber immer auch gibt es Interpreten, die der Versuchung erliegen, Kunstwerke den Zeiten anzupassen. Von ihnen soll hier die Rede gehen.

Am 4. und 5. Dezember 1942 nehmen in der Dresdner Semperoper Solisten, Sächsische Staatskapelle und Staatsopernchor Georges Bizets Opéra comique „Carmen“ auf. Die musikalische Leitung obliegt Generalmusikdirektor Karl Böhm, dem Nachfolger des 1933 von SA-Krakeelern aus der Oper, aus Dresden, aus Deutschland vertriebenen Fritz Busch.

Das Unternehmen dieser Aufnahme durch die Reichsrundfunkgesellschaft (RRG) bewertet Steffen Lieberwirth als „zukunftsweisendes Pionierdokument aus der Frühphase der Tonbandaufzeichnung im Reichsrundfunk“. Der Musikwissenschaftler leitet seit 2009 die „Edition Semperoper“, eine gemeinschaftliche Dokumentationsreihe der Staatsoper und Staatskapelle Dresden, des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR Kultur) und des Deutschen Rundfunkarchivs (dra). Zukunftsweisend deshalb, begründet Lieberwirth ausführlich im Beiheft zur Nr. 12 dieser unersetzlichen Edition, weil das AEG-Magnetophon zum Einsatz gekommen war. Die neue Technik der Magnetophon-Bänder ermöglichte eine längere Abspielzeit, da der Wechsel der bis dahin eingesetzten Schallplatten entfallen konnte.

Rekonstruktion der Aufnahme anhand der Originalbänder 

Zur Aufnahme waren zwei sich abwechselnde Magnetophone gelaufen, die knapp acht Magnetophonbänder der Firma I.G. Farben bespielt hatten. Die in den dreißiger Jahren eingeführten „Neumann-Kondensator-Mikrophone“, auch „Rundfunkflaschen“ genannt, waren sowohl im Orchestergraben als auch im Zuschauerraum des Opernhauses plaziert worden. Im Notenarchiv des MDR ist die sogenannte „Abhörpartitur“ erhalten geblieben, die zur Rekonstruktion der Aufnahme aus den Originalbändern herangezogen werden konnte. Ein Vergleich mit älteren Überspielungen der Aufnahme, die auf dem grauen CD-Markt kursieren, läßt die tontechnische Leistung der Rekonstruktion erst ganz ermessen.

Aus einem weiteren Grund ist die Rundfunkaufnahme der „Carmen“ von 1942 von musikhistorischem Wert. Sie offenbart deutsche Schwierigkeiten mit der Wahrheit der Opéra comique im allgemeinen und während der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges im besonderen.

Wie bei wenigen anderen Opern funktioniert bei dieser Spanienoper eines Franzosen die Abspaltung der realen Handlung von dem musikalischen Konsum. Die Arien, Chöre und Ensembles, Ohrwürmer allesamt, finden durchweg statt an anrüchigen Orten: Wachlokal und Tabakfabrik, Vorstadtkaschemme, die ein Kriminalitäts-Hotspot ist, Rastplatz einer Schmugglerbande, Vorplatz einer Stierkampfarena. Sie sind auferlegt Soldaten, die mit Schmugglern und Prostituierten kollaborieren, Zigarettenarbeiterinnen, die sich prostituieren, einem Stierkämpfer als Werbeträger in eigener Sache und einem Deserteur, der zum Mörder wird.

Wer bis dato noch nicht weiß, was toxische Männlichkeit bedeutet, der kann es von den Männern aller Stimmlagen erfahren, die keine anderen Freiheiten kennen als die, die sie anderen nehmen. Die anderen, das sind die Frauen. Der könnte aber auch einer selbstbestimmten Frau zuhören, die ihnen singend widerspricht und handelnd widersteht und doch unterliegen muß: Carmen.

Die Intentionen des Komponisten ins Gegenteil verkehrt 

Der Rundfunkaufnahme war eine Neuinszenierung durch Heinz Arnold vom 1. Februar 1942 und die 500. Vorstellung an der Dresdner Semperoper überhaupt vom 12. Juni 1942 vorausgegangen. Aufführungsfotos zeigen ein Bühnenbild mit Anleihen an spanisch-maurische Architektur, folkloristische „Trachten“-Kostüme, sogar einen echten Gaul für den vierten Akt, nichts Verstörendes also. Zwar trugen die Programmzettel den Hinweis, bei „Fliegeralarm die Kellerräume der Oper aufzusuchen“, aber die Aussichten auf den Endsieg schienen noch keineswegs verdüstert.

Während man Aufführungen von Mozarts wehrkraftzersetzender Opera buffa „Così fan tutte“ mit Rücksicht auf die deutschen Soldaten an der Front untersagt hat, ist selbiges hinsichtlich Bizets „Carmen“ nicht überliefert. Warum das unnötig schien, dafür gibt die vorliegende Rundfunkaufnahme Hinweise. Denn ganz im Sinne nationalsozialistischer Ideologeme verkehren ihre Interpreten – bewußt oder unbewußt – die Intentionen des Komponisten geradenwegs in ihr Gegenteil.

Sie stellen Liebestreu gegen sexuelle Verführung, verwurzelte Landfrau gegen wurzellose Zigeunerin, Heilige gegen Hure – und über alle und speziell über den Sohnemann José die Übermutter. Der schwedische Tenor Torsten Ralf singt immer wohlgeordnet, ein Lyriker, der in ein fremdes Drama geraten ist. Sein wackerer, grundanständiger Sergeant sucht eine vom rechten Wege Abgekommene, die ihn vom rechten Wege abgebracht, zurück auf diesen zu geleiten.

Mit dem Mord befreit sich der verführte Mann von seiner Verführerin und erlöst sie von sich selbst. Er zerstört diejenige, die seine Ordnung stört, ohne die Ordnung je zu durchschauen, die ihn zerstört, noch als Deserteur ein Soldat durch und durch. Den Schausteller Escamillo, der, Ironie der Autoren, als Sieger ohne Trophäe vom Platze geht, konturiert Josef Herrmann als keine Gegenfigur zu, sondern als eine Vaterfigur für José. Getreu der verwendeten Textfassung von Julius Hopp, obschon seit den zwanziger Jahren in der Kritik, formt Elisabeth Höngen eine „Tochter der Hölle“, die gegen ihren Widerpart Micaëla, wie sie Elfriede Weidlich hingebungsvoll opferbereit auf die Klangbühne stellt, selbstsüchtig und zuchtlos wirken muß.

Ob Soldaten, Kinder, Proletarier oder Lumpenproletarier, Volk oder Unvolk, der Oberflächenpolier Karl Böhm läßt ihnen allen in demselben Grundtempo den Marsch blasen. Seiner Auffassung kommt die Verwendung der üblichen Rezitativfassung des französischen Komponisten Ernest Guiraud entgegen, die „Carmen“ zur Grand Opéra modellierte – zur Tragödie des Don José, nicht der Carmen. Die Art und Weise seines Dirigats läßt keinen Zweifel daran, für welche Seite Karl Böhm den Taktstock geschlagen hat.

Georges Bizet Carmen Profil Edition Günter Hänssler 2021

 www.haensslerprofil.de

Foto: Opernsängerin Elisabeth Höngen: Hier als „Fricka“ bei den Bayreuther Festspielen 1951