© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Das Corona-Regiment und die gesellschaftlichen Folgen
Kontrollierte neue Wirklichkeit
Thorsten Hinz

Das Corona-Regiment hat unsere private und öffentliche Lebenswelt in eine neue Realität transformiert, auf welche die herkömmlichen politischen, rechtlichen, ethischen Begriffe und Kategorien nicht mehr zutreffen. Wenn Politik und Medien sich heute über Freiheit, Demokratie, Grundrechte, über die Freunde, die Feinde und den Schutz der Verfassung verbreiten, dann dient solches Vokabular vor allem als Spanische Wand, hinter der die Abrißarbeiten, die schon lange vor der Proklamierung des pandemischen Ausnahmezustands eingesetzt haben, täglich an Tempo zulegen.

Um die Herrschaftstechnik und inhaltliche Ausrichtung der ruinösen neuen Wirklichkeit zu erfassen, bieten sich die Zusammenschau von drei Perspektiven an: Erstens kann man sie als eine radikalisierte Variante der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft betrachten. Zweitens als übergriffige Biopolitik. Drittens schließlich als postdemokratische Renaissance des Doppelstaates, eines Hybrids aus dem von Willkür gesteuerten Maßnahmenstaat und dem gewöhnlichen Normenstaat, der die Willkür in „Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive“ zur Durchführung bringt (Ernst Fraenkel).

Der Terminus „Disziplinargesellschaft“ geht auf Michel Foucault (1926–1984) zurück. Gemeint ist der aufgeklärte, bürgerliche Staat, der sich vom Feudalstaat durch die Kodifizierung und Rationalisierung der Machtausübung abhebt. An die Stelle der Machtvollkommenheit des Feudalherrn treten als neue Machttechniken das Gesetz und die humane Reglementierung, die das „Disziplinarindividuum“ formen. Die Disziplinierung erfolgt durch die Einschließung in Institutionen, die großenteils staatlichen Charakter haben: das Gefängnis, die Kaserne, die Schule. Daneben die Fabrik, die Kirchen, die Familien. Sie bilden ein komplexes System aus Überwachung, Rechenschaft, Selbstkritik, Belohnung, Bestrafung.

Foucault knüpfte an die marxistische Kapitalismuskritik an und verfeinerte sie. Georg Lukács hatte den Arbeiter als einen technischen Gegenstand im Produktionsprozeß definiert, „worin er als eine rein auf abstrakte Quantität reduzierte Nummer, als ein mechanisiertes und rationalisiertes Detailwerkzeug, eingefügt ist“. Bei Foucault agiert das Unterdrückungs- und Entfremdungssystem elastischer. Es sanktioniert Übertretungen und honoriert Wohlverhalten. Dadurch wird das Individuum motiviert, an der Machtausübung über das eigene Ich und damit in einem Prozeß mitzuwirken, der darauf angelegt ist, seine Produktivität und Profitabilität zu steigern.

Dieses Disziplinierungsmodell greift über den Produktionsprozeß hinaus: Foucault konstatierte die Entwicklung zur „panoptischen“ Gesellschaft, in der das Individuum von überall einsehbar wird: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. (...) Dieser geschlossene, parzellierte und lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen (...) jedes Individuum ständig erfaßt, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird – dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.“

Lukács hatte noch im Proletariat eine revolutionäre Kraft gesehen. Da es über nichts als seine Arbeitskraft verfügte, die es verkaufen mußte, um sein nacktes Leben zu fristen, war es genötigt, seine totale Entfremdung „als Objekt des Prozesses zu erleiden“. Eben diese Härte, so die marxistische Annahme, würde es befähigen, als bewußtes Subjekt „über die Unmittelbarkeit dieses Zustandes“ hinauszugehen und ihn aufzuheben.

Die Parteidiktatur im Ostblock und der erfolgreiche Sozialreformismus im Westen widerlegten die Erlösungshoffnung. Die Befreiung des Individuums sollte statt dessen diskursiv, durch die Delegitimierung und Dekonstruktion der Machtinstitutionen mittels Sprache, in Gang gesetzt werden. Zu dem Zweck wurde die „Macht“ einseitig negativ konnotiert. Dabei wurde die befriedende Funktion des bürgerlichen Staats mit seinen rechtlichen Garantien und demokratischen Entfaltungsmöglichkeiten unterschlagen. Der Leviathan, der das Recht schützt und den inneren und äußeren Frieden organisiert, wurde als Ungeheuer, als Behemoth, verteufelt, den es zu stürzen und zu zerlegen galt.

Die Dekonstruktion war zweifelsfrei erfolgreich. Die Armee ist heute ein Witz; die Polizei, das Gefängnis, die Justiz üben – jedenfalls auf Kriminelle – keine disziplinierende Wirkung mehr aus; die Schulen lassen sich leistungsfrei absolvieren; Asozialität wird subventioniert usw. Heute steht der Staat, soweit er als eine Macht verstanden wird, die Schutz gewährt und Gehorsam verdient, in Gänze zur Disposition, denn der Zusammenhang von Territorium, Staatsvolk und Staatsmacht ist faktisch aufgelöst.

An der ursprünglichen Zielsetzung ist die Linke dennoch gescheitert. Sie hat bloß beschleunigt und ideologisch befeuert, was als Bestrebung und Ziel im international agierenden Monopol- und Finanzkapitalismus angelegt ist: die Schleifung der nationalen und kleinteiligen Strukturen und Verbindlichkeiten zu dem Zweck, den global vereinheitlichten Konsumenten mit annähernd identischen Bedürfnissen zu erschaffen, der kostengünstig mit standardisierten Produkten versorgt wird. Tatsächlich verschwindet die Macht nicht, sie sucht sich nur neue Ausdrucksformen und dringt noch tiefer in das Kapillarsystem der menschlichen Verhaltensweisen und Beziehungen ein.

Der Philosoph Gilles Deleuze (1925–1995) hat, an Foucault anschließend, einen Wandel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft festgestellt, in der die Disziplinierung nicht mehr institutionell, sondern systemisch, nicht mehr durch Einschließung, sondern durch Kontrolle, Steuerung und Dosierung der Bewegungsströme erfolgt. An die Stelle rigider Verbote treten Empfehlungen und „ultraschnelle Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“. Die hierarchische Fabrik, in der dem einzelnen sein fester Platz zugewiesen ist, wird durch das Unternehmen ersetzt, wo das unternehmerische Ich sich im Zustand permanenter Instabilität befindet und zu ständiger Selbstkontrolle, Weiterbildung und Selbstoptimierung aufgefordert ist.

Deleuze zeichnete weiterhin das Bild einer Gesellschaft, in der man seine Wohnung, sein Wohnviertel nur dank seiner elektronischen Karte „verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfaßt und eine universelle Modulation durchführt“. Dies ist als die logische Konsequenz eines digitalisierten, globalen Finanzkapitalismus gedacht, in dem der Mensch „nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch“ ist.

Das Corona-Regiment hat die Verschuldung von der monetären auf die moralische Ebene erweitert. Es hat den schuldbewußten, unter ständigen Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck stehenden Menschen erzeugt, der meint, bei Nichtbefolgung der staatlichen Anweisungen sich und andere Menschen in Lebensgefahr zu bringen. Durch das pandemische Regelwerk in seinem Handeln und seiner Bewegungsfreiheit gelähmt, nimmt er den weniger Folgsamen noch die geringste Regelübertretung übel, weil sie ihm die eigene Beschränkung schmerzhaft bewußt macht. Um sein Defizit zu kompensieren, weitet er die Selbstkontrolle auf die Kontrolle anderer aus und macht die Regeln – statt nach ihrer Sinnhaltigkeit zu fragen – zu seiner persönlichen Angelegenheit.

Das beginnt bei Schulkindern, die fürchten, ihre Großeltern tödlich zu infizieren und sie deshalb nicht mehr besuchen. Es gibt den typischen Fahrgast, der im leeren Zugabteil den in sicherer Entfernung sitzenden Mitreisenden lautstark an die geltende Maskenpflicht erinnert. Brave Bürger, die sich bis dato stets im Rahmen der Politischen Korrektheit bewegt, sich nun aber gegen eine Corona-Impfung entschieden haben, werden von Familienmitgliedern und Freunden plötzlich als „Nazis“ beschimpft. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich aufgrund der blockierten Historisierung der NS-Zeit der „Nazi“-Signifikant vom Signifikat abgelöst hat und zum beliebig verwendbaren Zeichen für ein halluziniertes Böses geworden ist.

Die ideologische Aufladung der Corona-Debatte wird von Politik und Medien gezielt betrieben. Sie können dabei die langfristige Konditionierung der Gesellschaft durch den „Kampf gegen Rechts“ voraussetzen. Auf dieser Grundlage lassen sich die Wut und Enttäuschung darüber, daß die Pandemie-Maßnahmen, die im Vertrauen auf die Weisheit der Politik mehrheitlich befolgt wurden, auch nach zwei Jahren kein Ende finden, erfolgreich auf die „Impfmuffel“, „Covidioten“, „Querdenker“ und „Rechtsextremisten“ gelenkt werden.

Während die Gegnerschaft zum Corona-Regiment im politisch-medialen Diskurs als „rechts“ verortet wird, will die sich antiautoritär gerierende Linke im Kontrollregime und im Absterben des öffentlichen Lebens die Geburt eines neuen Gemeinschaftssinns erkennen. Eine partielle Erklärung dafür liefert die Netzseite „Zusammen gegen Corona“ des Bundesgesundheitsministeriums. Schon in der Überschrift wird die „Solidarität in der Coronavirus-Pandemie“ beschworen. „Solidarität ist ein linkes Ideal, es grenzt sich zur konservativen und liberalen Eigenverantwortung und Eigenständigkeit ab“, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Die Linke habe solidarisch sein wollen mit dem Pflegepersonal, mit den Infizierten, mit Italien oder den besonders gefährdeten Gruppen. So habe es „berechtigte Freude in progressiven Milieus aus(gelöst), daß endlich einmal Leben über Geld gestellt wurde“.

Diese Haltung war anfangs – vielleicht – gerechtfertigt. Nach zwei Jahren Ausnahmezustand ist sie es nicht mehr. Indem sie starr daran festhält, zeigt die Linke, daß sie verloren hat, was in der Vergangenheit als ihre Stärke und Mission galt: den Zusammenhang von ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse herzustellen und zu thematisieren. Sie ist blind dafür, daß die Corona-Maßnahmen eine Vermögensumschichtung von unten nach oben erlauben und internationalen Monopolisten wie Amazon Gelegenheit gegeben wird, dem deutschen Mittelstand das Wasser abzugraben.

Solidarität ist eine soziale, zwischenmenschliche, von positiven Gefühlen und Absichten grundierte Interaktion. Die Pandemie-Ordnung jedoch erzeugt eine Versuchsanordnung aus isolierten Individuen, die im Takt autoritärer Anordnungen marschieren sollen. Zu dem Zweck werden sie Tag für Tag medial mit Zahlen bombardiert, die ihnen keine Information liefern, aber Verunsicherung, Angst und autoritäre Einstellungen hervorrufen und sie veranlassen sollen, den Autoritarismus als normal anzusehen. Unabhängig vom aktuellen Befinden müssen die Menschen ihren medizinischen Status kontrollieren, sich kategorisieren und bewerten lassen: erst- und zweitgeimpft, einmal oder zweimal geboostert, genesen, getestet usw. Je nach Kategorie werden ihnen soziale Berechtigungen – von Grundrechten ist ohnehin kaum noch die Rede – zugestanden oder entzogen. Die Einteilung unterliegt politischer Willkür und kann abrupt und begründungslos geändert werden, wie die Halbierung des Genesenen-Zeitraums zeigte. Die Parallelen zum Sozialkredit-System in China, wo ein aus Sicht der herrschenden kommunistischen Partei nonkonformes Verhalten zu Reisebeschränkungen, zur Drosselung der Internetgeschwindigkeit, zum Ausschluß von Beförderung, öffentlichen Ausschreibungen und höheren zu zahlenden Steuern führt, liegen auf der Hand.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kultur-redakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den langen Vorlauf des antiweißen Rassismus („Verblendung und Schuldkomplex“, JF 34/21).

Foto: QR-Code mit dem Logo der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas: Die Parallelen zwischen der Pandemie-Ordnung und dem Sozialkredit-System in China liegen auf der Hand