© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Ein Mandat zum Weglaufen
Die UN-Mission in Bosnien-Herzegowina vor dreißig Jahren war zum Scheitern verurteilt
Paul Leonhard

Er war das größte Fiasko, das die Vereinten Nationen bisher in ihrer Geschichte erleben mußten: der Einsatz einer Friedens-truppe in den von serbischen Truppen angegriffenen Gebieten von Bosnien und Herzegowina. Am 21. Februar vor dreißig Jahren beschließt der UN-Sicherheitsrat angesichts der bewaffneten Konflikte in Kroatien die Friedensmission „United Nations Protection Force“ (Unprofor). Diese wird Anfang Juni auf Bosnien-Herzegowina erweitert, wo ein bewaffneter Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen ausgebrochen ist.

Der zwischen Kroatien, Serbien und Montenegro gelegene heutige Bundesstaat – bestehend aus der Föderation Bosnien-Herzegowina, der Republik Srpska und dem Brcko-Distrikt – ist ein ethnischer Flickenteppich. 1992 sind von den rund 4,4 Millionen Einwohnern Bosniens 44 Prozent Muslime, 33 Prozent orthodoxe Serben und 17 Prozent katholische Kroaten.

Für den Militäreinsatz gibt es weder Ausrüstung noch ein Mandat

Gegen den Widerstand der Serben findet am 29. Februar/1. März 1992 ein Referendum statt, in dem sich 99,4 Prozent der Abstimmenden – die Wahlbeteiligung liegt bei 63 Prozent – für den Austritt aus dem jugoslawischen Staatsverband aussprechen. Die proklamierte Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas wird zwar bereits am 17. April international anerkannt, nicht aber von den auf dem Gebiet des neuen Staates lebenden Serben. Diese beharren auf ihrer eigenen „Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina“, später Republik Srpska (RS), und träumen von einem Großserbischen Reich.

Die Idee umzusetzen, tritt deren Präsident Radovan Karadžić mit seinen Soldaten an. Seinem Ziel, zwei Drittel Bosniens zu erobern, stellen sich eine von Muslimen gebildete Armee sowie der Kroatische Verteidigungsrat entgegen. Bereits im Juni erweitert der UN-Sicherheitsrat das Unprofor-Mandat auf das gerade erst UN-Mitglied gewordene Bosnien-Herzegowina. Noch hat die Mission einen reinen Bobachtungsstatus, was sich aber schnell ändert. Immer umfangreicher werden die den Soldaten gestellten Aufgaben. Sie sollen Schutzzonen für Zivilisten einrichten, Flugverbotszonen durchsetzen, humanitäre Hilfe sicherstellen, Hilfskonvois schützen. Im April 1993 werden sechs Schutzzonen für die Zivilbevölkerung definiert: der größte Teil von Sarajewo, Tuzla, Bihac und die ostbosnischen Enklaven Zepa, Gorazde und Srebrenica.

Die Krux: Die Aufgabe, als Friedenssicherungstruppe aktiv zu werden, erweist sich schon deswegen als unerfüllbar, weil in Bosnien-Herzegowina längst kein Frieden herrscht, die Konfliktparteien mit unvorstellbarer Härte gegeneinander vorgehen und Kroaten wie Serben mit ethnischen Säuberungen – wie sie von Titos-Partisanen gegenüber der deutschen Volksgruppe bekannt und erprobt sind – versuchen, Tatsachen zu schaffen.

Für militärische Einsätze ist Unprofor aber nicht ausgestattet, weder von der Ausrüstung noch vom Mandat her. Was letzteres beinhaltet, ist den Kommandeuren der internationalen Truppe selbst noch unklar, als im Spätherbst 1992 die Hauptstadt Sarajewo sowie die Enklaven Bihac, Srebrenica und Zepa von Serben eingeschlossen sind und beschossen werden. Der schwedische General Lars-Eric Wahlgren fliegt letztlich nach New York, um Klarheit zu bekommen und erfährt: „Wenn serbische Granaten über die Köpfe der Blauhelme fliegen und die Moslems treffen, werden wir nichts tun.“

Daß die Schutzzonen zu keiner Zeit von den Serben respektiert wurden, hängt mit einer weiteren Vorgabe der UN zusammen. Danach durften Nato-Kampflieger, die eigentlich mit ihrer Präsenz der UN-Gewaltandrohung gegenüber den Serben Ernsthaftigkeit verleihen sollten, nur eingreifen, wenn Blauhelm-Soldaten beschossen werden und dann nur die exakt identifizieren Waffen („smoking guns“). Zudem werden mehrere vom französischen General Jean Cot angeforderte Luftschläge gegen Milizen, die Blauhelme, Zivilisten und Hilfskonvois beschießen, vom UN-Generalsekretär abgelehnt.

Die bosnischen Serben sehen sich ermuntert, Tatsachen zu schaffen. Anfang Juli 1995 gehen sie zum direkten Angriff auf die von 400 Niederländern gesicherte Schutzzone Srebrenica über, in der sich mehr als 50.000 Muslime befinden. Die Blauhelme fordern Luftunterstützung an, aber die UN verweigert den Einsatz der bereits in der Luft befindlichen Nato-Kampfflieger, weil sie keinen Vorwand für das Scheitern laufender Verhandlungen mit den Serben liefern möchte. 

Am 11. Juli kapituliert der niederländische Kommandeur. Ein französischer Eilantrag, mit eigenen Truppen die Sicherheitszone zurückzuerobern, wird abgelehnt. Letztlich werden rund 40.000 muslimische Frauen und Kinder vertrieben, mindestens 7.574 Männer massakriert.

Das Balkanland bleibt ein Pulverfaß

Unprofor kann letztlich das Schutzversprechen der UN für die bosnischen Moslems in den sechs Schutzzonen nicht einlösen, „da die Truppenstärke nicht entsprechend aufgestockt worden und wohl auch die erforderliche Qualität der Truppen nicht vorhanden war“, schreibt Karl Schmidseder in „Internationale Interventionen und Crisis Response Operations“. Vor allem war der Sicherheitsrat nicht in der Lage, eine gemeinsame Position dafür zu finden, die beschlossenen Positionen notfalls auch zwangsweise durchzusetzen. Daß das auch im Fall von Srebrenica Erfolg gehabt hätte, zeigt die Situation in Sarajewo, wo sich die bosnisch-serbischen Soldaten nach vier Jahren Belagerung und Beschuß rasch zurückzogen, nachdem die Nato sie mit Kampffliegern angreifen durfte. Der Bosnienkrieg wird schließlich auf Druck der USA beendet. Mit dem Friedensabkommen endet am 20. Dezember 1995 auch die Unprofor-Mission, an der die Bundeswehr die letzten fünf Monate beteiligt war. Die Nato übernimmt. 

Kleiner Ausblick: Das kleine Balkanland bleibt aber auch dreißig Jahre nach seiner Unabhängigkeit ein Pulverfaß. Ein Ausbrechen erneuter bewaffneter Konflikte ist angesichts der geopolitischen Machtkämpfe zwischen der EU/Nato und Rußland nicht ausgeschlossen. Denn während Bosnien-Herzegowina offiziell beiden westlichen Bündnisse beitreten will, droht die politische Führung der serbischen Minderheit ihrerseits mit einer Abspaltung. Derzeit sind noch immer rund 700 Soldaten der Mission Eufor-Althea stationiert, die schnell auf mehrere 1.000 Mann aufgestockt werden können. Und seit dem Massaker von Srebrenica haben UN-Missionen meist auch ein Mandat für ein robustes militärisches Vorgehen.

Foto: Gepanzerte Fahrzeuge der UN patrouillieren am 13. Juli 1992 in Sarajevo: Bei einer Volksabstimmung am 29. Februar 1992 über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas sprachen sich zwei Drittel der Bevölkerung für die Abspaltung der jugoslawischen Teilrepublik aus. Bald darauf kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen, die sich zu einem blutigen Bürgerkrieg ausweiteten.