© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Vom Kanu zum Containerschiff
Rund um den Globus: Der britische Historiker David Abulafia erzählt die große Weltgeschichte der Ozeane
Ludwig Witzani

Unzählige Male ist die Geschichte der Entdeckungen bereits erzählt worden, mal rein narrativ, mal unter machtpolitischen, geographischen oder technischen Aspekten. Kann es da überhaupt noch etwas Neues geben, möchte man fragen. Ja, sagt Professor David Abulafia, 72jähriger Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte an der Universität von Cambridge: die Weltgeschichte der Entdeckungen als eine Weltgeschichte der Ozeane. 

David Abulafia, international bekannt geworden durch sein Buch „Das Mittelmeer. Eine Biographie“, erzählt die Weltgeschichte der Ozeane als die Geschichte der Verwandlung der maritimen Unendlichkeit in ein berechenbares System planbarer Wege. Zunächst geht es um die Inbesitznahme des Indischen, Pazifischen und Atlantischen Ozeans durch die Entdecker und Händler an den ozeanischen Küsten, dann um die Verbindung der Ozeane zu einem grenzenlosen Weltmeer.

Ein Vorzug dieser Perspektive ist der Abschied von der rein eurozentrischen Perspektive der Entdeckungsgeschichte. Bei der Erschließung des Indischen Ozeans etwa spielten lange vor den Portugiesen malaiische Einwanderer und Seefahrer, die von Indonesien nach Madagaskar zogen, eine Rolle – ebenso wie die iranischen und arabischen Händler, die auf ihren Dhaus den Indischen Ozean in Richtung Ostafrika überquerten. Sie waren angewiesen auf die Kenntnis von Monsunzeiten und wechselnden Windrichtungen, eine Erfahrung, die auch der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama machen mußte, als er sich 1498 von Indien aus mit „Gegenwind“ auf den Heimweg machte. 

Von mesopotanischen Sumerern bis zu Magellan und da Gama

Die Geschichte des Pazifischen Ozeans beginnt mit den Entdeckungsreisen der Polynesier, Mela-nesier und Mikronesier. Ausgehend von Tonga, Fidschi und Samoa, dem sogenannten „pazifischen Dreieck“, erreichten die „pazifischen Argonauten“ in ihren umgebauten Kanuten die Marquesas und die Gesellschaftsinseln, dann Hawaii und Neuseeland, bis mit der Inbesitznahme auch entlegener Inseln wie Rapa Nui oder Pitcairn die Erkundung des Pazifiks endete. Erst viel später erschienen Magellan, Legazpi, Torres oder Cook. 

Nicht anders verhielt es sich mit dem Atlantik, auf dem bereits lange vor Kolumbus eine lebhafte Küstenschiffahrt zwischen Nordafrika, England, Irland und Norwegen existierte. Die dabei ge-wonnenen nautischen Erkenntnisse trugen dazu bei, daß die Wikinger am Ende des 10. Jahrhunderts Island, Grönland und schließlich Nordamerika erreichten.  

Innerhalb dieser Geschichte der drei Ozeane bietet das vorliegende Buch eine geradezu enzyklo-pädische Fülle von Details zur Entdeckungsgeschichte, wie man sie in dieser Dichte noch nicht gelesen hat. Ausführlich wird zum Beispiel der Handel der mesopotamischen Sumerer mit der Induskultur oder die Erkundung des Roten Meeres durch Ptolemäer und Römer beschrieben. Abulafia diskutiert die Wahrscheinlichkeit der Besiedlung Polynesiens vom südamerikanischen Kontinent her und die Hypothese von der Entdeckung Amerikas durch die Dschunkenflotten des chinesischen Admirals Cheng Ho, was er in beiden Fällen für ausgemachten Unsinn hält. Ein Vergleich der Warenvolumina der klassischen Seidenstraße mit dem Warentransport über das Meer zeigt, daß die sogenannte „Seidenstraße des Meeres“ von Alexandria über Malakka bis zur chinesischen Hafenmetropole Quanzhou in der Epoche der chinesischen Song-Dynastie (960–1279) um ein Vielfaches bedeutsamer war als der Landverkehr. 

So weit, so bemerkenswert. Was aber ist mit Kolumbus, Vasco da Gama und Magellan, um nur die drei bekanntesten europäischen Entdecker zu nennen? Ihre Bedeutung beruht für Abulafia nicht so sehr auf den von ihnen „entdeckten“ Gebieten, sondern darin, daß sie und ihre holländischen, britischen und französischen Nachfolger einen Prozeß einleiteten, der die Verkehrswege der drei Ozeane nicht nur neu erschloß, sondern zur planetarischen Einheit verband. 

Klassische Häfen werden von Containerterminals verdrängt 

Am innovativsten, wenn auch langfristig nicht am erfolgreichsten, waren die Spanier, die ab 1570 mit der „Manila Galeone“ die erste stabile Welthandelsstruktur etablierten. Einmal im Jahr schick-ten sie von Acapulco in Mexiko aus eine Galeone voller Silber aus den Minen von Potosi und Taxco über den Pazifik nach Manila, um es gegen Gewürze von den Molukken oder Seide, Porzellan und andere Luxuswaren aus China einzutauschen. Manchmal nahm die Manila-Galeone auf ihrem Rückweg auch zahlende Passagiere mit, wie etwa Giovanni Careri, der im Jahre 1697 nach seiner jahrelangen Reise von Venedig nach China mit der Manila-Galeone den Pazifik überquerte und nach seiner anschließenden Atlantikpassage zum ersten „Touristen“ wurde, der die Welt mit jedermann zugänglichen Transportmitteln umrundet hatte. Ein Phileas Fogg der frühen Jahre. 

Der Manila-Galeone folgten bald andere transozeanische Handelsverflechtungen, die die Bedürf-nisse unterschiedlicher Weltteile miteinander verbanden. So stimulierte die massenhafte Einfuhr von Tee aus China nach Großbritannien die Nachfrage nach Zucker aus der Karibik. Mais aus Südamerika und die Kartoffel aus Peru waren Voraussetzungen für das enorme chinesische Bevölkerungswachstum in der Epoche der chinesischen Mandschu-Dynastie (1644–1911). 

Im 19. Jahrhundert beschleunigte sich der Prozeß der transozeanischen Globalisierung. Weit abgelegene Territorien der kontinentalen Landmasse wurden durch Eisenbahnen mit den großen Häfen und damit den Ozeanen verbunden. Die Ablösung der Segelschiffahrt durch die Dampfschifffahrt revolutionierte Schnelligkeit und Sicherheit des Warenverkehrs. Die Verwirklichung der großen Kanalprojekte von Suez und Panama reduzierte die Entfernungen und machte sogar Weltreisen in überschaubaren Zeiträumen möglich. Nachdem im Jahre 1869 die transamerikanische Eisenbahn zwischen New York und San Francisco fertiggestellt und der Suezkanal eröffnet worden war, umrundete der Engländer George Francis Train schon im nächsten Jahr die Welt in achtzig Tagen und wurde zum literarischen Vorbild für Jules Vernes Weltbestseller „Reise um die Erde in achtzig Tagen“ (1873).

Im 20. Jahrhundert kommt die Weltgeschichte der Ozeane durch den Siegeszug des Luftverkehrs und die Einführung der Containerschiffahrt an ihr Ende, kein noch so entlegener Punkt harrt im Zeitalter von GPS noch einer kühnen Entdeckung. „Die Küstenlinien sind heute bei Reisen zwischen Großbritannien oder Italien und den Vereinigten Staaten weitgehend irrelevant geworden“, vermerkt Abulafia. „Die klassischen Häfen vergangener Zeiten wurden von Containerterminals verdrängt, die meist keine Handelszentren mit einer bunten Vielfalt von Personen unterschiedlichster Herkunft mehr sind, sondern eher Fabriken gleichen, in denen Maschinen unablässig am Netz des internationalen Handels weben.“

Ist das ein glückliches Ende, möchte man am Ende der Lektüre fragen. Abulafia bleibt diese Antwort schuldig. Er zeichnet nur einen Prozeß nach, das allerdings extrem anschaulich und in opulenter Breite. Am Ende ist der Planet über die Erschließung seiner Ozeane zu einer Einheit geworden. Ob das den Ozeanen gut bekommen ist, ist eine andere Frage, die der Autor jedoch merkwürdigerweise nicht stellt.

David Abulafia: Das unendliche Meer – Die große Weltgeschichte der Ozeane. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, gebunden, 1.168 Seiten 68 Euro

Foto: Vasco da Gama landet am 20. Mai 1498 in der Nähe des südindischen Kalikut, Aquarell von Ernesto Casanova um 1880: Die Ozeane zur planetarischen Einheit verbunden