© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Frisch gepreßt

Hellsehen. Gefeiert von jenen, die als „Corona-Leugner“ gescholten werden und verdammt von denen, die lieber zu viele Schutzmaßnahmen vor dem Virus installiert sehen wollen als zu wenige, das ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Die taz stellt Agamben in eine Reihe mit Attila Hildmann, Ken Jebsen, Sucharit Bhakdi. Mit ironischem Ton heißt es, sie hätten gewarnt vor „der Aussetzung der Grundrechte, der Zerstörung des zivilen Lebens, der Entmündigung des Individuums“. Und in der Tat ist Agambens Zusammenstellung von Zeitungstexten und Interviews von einer Hellsichtigkeit gekennzeichnet, die in der Pandemie ihresgleichen sucht. Doch bereits im Vorwort macht der Autor von „Homo sacer“ (sein Hauptwerk von 1995 über Totalitarismus und Biopolitik) klar: „Wenn die vorherrschenden Kräfte dieser Welt die Pandemie – ob sie tatsächlich oder nur scheinbar eine solche ist – bewußt zum Vorwand genommen haben, ein völlig neues Paradigma zu schaffen, wie Menschen und Dinge zu regieren sind, dann deshalb, weil sich die alten politischen Modelle aus ihrer Sicht in einem unaufhaltbaren Niedergang befanden.“ Kurz: Er ist kein Leugner der Pandemie, sondern ein klarsichtiger Kritiker der Maßnahmen und der Neuordnung. (mp)

Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Verlag Turia+Kant, Wien 2021, gebunden, 155 Seiten, 16 Euro





Herbert Gruhl. Man glaubt es heute kaum noch, aber die Grünen hatten in ihrer Gründungszeit konservative Köpfe wie den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl (1921–1993), einer der ersten Vorsitzenden des 1975 gegründeten Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Er erreichte mit „Ein Planet wird geplündert“ (1975) Auflagen vergleichbar denen von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ seit 2010. Jene schillernde Gestalt mit sächsischen Wurzeln hatte ihre Bücher und Reden nicht nur mit Aphorismen aus der Literatur geschmückt, sondern auch selbst welche geschrieben. Die Aphorismen blieben dem Publikum bislang unbekannt; sie sind von Andreas Gruhl und Volker Kempf aus dem Nachlaß veröffentlicht worden. Der Journalist Konrad Adam trägt ein Vorwort bei, das Gruhl als Kassandra zeichnet, als eine, von der man etwas lernen kann, wenn man ihre Worte bedenkt. Aphorismen sind im Unterschied zu systematischen Abhandlungen kurze und prägnante Lehrsätze, manchmal in nur einen Satz gegossen, so wie dieser hier von Gruhl aus der Rubrik Politik: „Die Deutschen werden noch immer an der Bewältigung ihrer Vergangenheit arbeiten, wenn die Zukunft schon vorüber ist.“ (bg)

Andreas Gruhl, Volker Kempf (Hrsg.): Herbert Gruhl. Aphorismen. Menschliches, Ökologie und Politik. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2021, broschiert, 76 Seiten, 12,90 Euro