© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/22 / 18. Februar 2022

Der Flaneur
Der Glückskeks
René Langner

Weder bin ich ein Freund von Silvesterbräuchen, noch habe ich etwas mit guten Vorsätzen am Hut. Im Gegenteil. Ich hielt es bisher eher wie Konfuzius, der einmal gesagt haben soll, am Baum der guten Vorsätze gibt es viele Blüten, aber nur wenig Früchte.

Und dennoch saß ich am Neujahrsmorgen da und hielt inne: „Kümmere dich um andere – du wirst dafür belohnt“. Das waren die Worte auf dem kleinen Stück Papier, welches ich kurz vorher aus einem Glückskeks zog. Der Sinn erschloß sich mir nicht gleich. Aber ich hatte da so ein Gefühl. Ein Gefühl, daß stets dann aufkommt, wenn man es am meisten braucht oder instinktiv spürt, daß sich der eigene Lebensweg wandelt.

Die Kollegin verbringt ihre Pause seit dem Gespräch über die „Spaziergänge“ lieber ohne mich.

Heute, angekommen mitten im gesellschaftlichen und politischen Chaos des neuen Jahres, erkenne ich den Sinn aber klar und deutlich. Diese Worte sind mein guter Vorsatz geworden. Nicht nur für das neue Jahr. Sondern, so hoffe ich, für eine möglichst lange Zeit in meinem Leben.

Schauen wir uns um: Die Welt ist im Wandel. Nicht erst seit Corona. Viel länger ist es her, als wir begonnen haben, uns abzuschotten und zu isolieren. Wir wirken global verbunden, errichten lokal aber immer wieder Mauern. Das Gespür für unsere Mitmenschen scheint ebenso abhanden gekommen wie Empathie für andere Meinungen oder Ansichten.

Genau dieser Wandel ist es, den ich täglich spüre, egal, ob der freundliche Nachbar, der seit er meinen Impfstatus kennt, plötzlich einen großen Bogen um mich macht. Oder die Kollegin, die seit unserem Gespräch über die „Montagsspaziergänge“ ihre Pausen nun lieber ohne mich verbringt.

Verwundern mag dies nicht. Denn wo Panik geschürt und Angst verbreitet werden, sind Spaltung und Ausgrenzung nicht mehr weit. So schlimm dies sein mag, genau hier liegt die Lösung: Nur wir selbst sind in der Lage, unsere eigens erschaffenen Mauern einzureißen. Nur wir persönlich können uns genau den Menschen zuwenden, die uns umgeben. Nicht immer bedarf es großer Taten. Oft reicht schon eine kleine Geste. Und so klopfe ich beim Nachbarn, mit zwei Bier in der Hand. Meiner Kollegin sende ich eine Mail mit Einladung zum Kaffee. Und trotz meiner Zweifel nehmen beide dankend an.