© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Putin zielt auf eine Revision
Ukraine-Krise: Rußland nutzt die Schwäche Deutschlands und des Westens für einen Rollback
Dieter Stein

Der eisige Wind nackter Machtpolitik weht uns ins Gesicht und vertreibt letzte Illusionen. Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine schafft Rußlands Präsident Fakten. Nachdem er die von separatistischen Rebellen beherrschten „Volksrepubliken“ anerkannt hat, die postwendend um brüderliche Hilfe rufen konnten. Die hektischen diplomatischen Bemühungen der letzten Wochen sind Schall und Rauch. Wladimir Putin folgte dabei einem Drehbuch, dessen Dramaturgie länger feststand. 

In einer einstündigen Rede machte der russische Machthaber am Montag klar, daß es nicht um ein kurzes Muskelspiel oder vorübergehendes Ablenken von innenpolitischen Problemen geht. Es geht ihm um nicht weniger als die Revision der geschichtlichen Entwicklung seit 1989/91 und sogar darüber hinaus. Dieses Ziel hat er seit Beginn seiner Präsidentschaft vor 20 Jahren vor Augen. Den Zusammenbruch der Sowjetunion nannte er in einer vielzitierten Rede an die Nation bereits 2005 die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Das staatliche Chaos der Nachwendejahre wollte er durch Anknüpfung an russische Größe überwinden. Um den demoralisierten Staat wieder aufzurichten und verfeindete Lager zu einen, schuf er ein Identitäts-Amalgam aus Versatzstücken der orthodoxen, der zaristischen wie sowjetkommunistischen Tradition. Letzteres mündet in den vergangenen Jahren in eine wachsende, von Putin immer wieder persönlich geförderte, gespenstische Stalin-Verehrung.

Das erklärt auch, warum die Ukraine in den Augen Putins – entgegen dem Budapester Memorandum von 1994 – kein zu respektierender Nationalstaat mit eigener Geschichte, sondern eine nach der bolschewistischen Revolution von 1917 „willkürlich gegründete Einheit“, also ein Kunstprodukt ist, dessen Entstehung er einer eklatanten Fehlentscheidung Lenins zuschreibt. Putin hob in der aktuellen Rede das Schleifen von Lenin-Denkmälern in der Ukraine der 90er Jahre hervor und meinte süffisant: „Wir können euch zeigen, was echte Entkommunisierung ist.“ Das ist eine Drohung, die nicht nur im Zusammenhang mit der Annexion von Krim und Donbass zu sehen ist, sondern auch als Teil des Projektes, das auf die „Sammlung russischer Erde“ abzielt. Damit steht nicht nur die Ukraine im Fadenkreuz der russischen Expansion, sondern mittelbar die gesamte Architektur der osteuropäischen Staatenwelt, wie sie nach 1989 wiedererstanden ist.

Putins Vorstoß ist ein Debakel für die Außenpolitik Deutschlands, der Europäischen Union wie der Nato. Rußland war zum aktuellen Schlag gegen die Ukraine in der Lage, weil es eine anhaltende Schwäche des Westens und Europas nutzen konnte. Offenbar hat Putin den Abzug der US-Truppen und ihrer europäischen Verbündeten aus Afghanistan als Beweis für die Unfähigkeit oder den Unwillen des Westens gewertet, seine Interessen und seine Zusagen auch mit Hilfe der „Ultima ratio“ – der Waffengewalt – zu verteidigen.

Man gebe sich keinen Illusionen hin. Mit dem Einmarsch russischer Soldaten in die „Volksrepubliken“ sorgt Moskau jetzt dafür, daß ein Beitritt der Ukraine zur Nato dauerhaft unterbunden wird. Was auf dem Verhandlungswege nicht zu erreichen war, setzte Moskau Kraft militärischer Stärke durch. Soweit hätte es nicht kommen müssen, wäre Kiew von westlicher Seite signalisiert worden, daß zwar kein Bündnisbeitritt, aber eine garantierte Neutralität zu erreichen sei.

Deutschland und die Europäische Union stehen jetzt vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik, die vor allem durch Wirklichkeitsverlust gekennzeichnet war. Putin hat Rußland in die Lage versetzt, bis auf weiteres die meisten der im Raum stehenden Sanktionen aushalten zu können. Der Schuldenstand ist niedrig, die Devisenreserven hoch. Von den in Krisenzeiten steigenden Öl- und Gaspreisen profitiert Rußland sogar. Die derzeitige Lage der Weltwirtschaft nach zwei Jahren Corona läßt wenig Spielräume für harte Sanktionen, weil diese auch auf die Ökonomie des Westens zurückschlagen. Niemand wird es im Moment hilfreich finden, den stotternden Motor der Weltwirtschaft wieder abzuwürgen.

Das wird man eher über kurz als über lang in Washington wie in Paris, in London und in Berlin begreifen. Deutschland sollte sein grundsätzliches Interesse an der Achtung der Nachwendegrenzen und der Souveränität der ostmittel- und osteuropäischen Staaten deutlich machen. Uns kommt in der Zentrallage auf dem Kontinent die Rolle des Mittlers zu. Aber dieser Anspruch muß machtpolitisch unterbaut werden, wenn er nicht rein deklamatorischer Natur sein soll. Wer garantiert denn im Ernstfall die Unverletzlichkeit von Grenzen? Unter wessen Atomwaffenschirm wollen wir – und die bedrohten Staaten – uns bewegen?

Daß die politische Klasse die Tragweite dieses Zusammenhangs begreift, ist nicht zu erwarten. Es ist in Europa längst ein machtpolitisches Vakuum entstanden. Bei allem vollmundigen Gerede von „wertebasierter Außenpolitik“ und großspurig vor sich hergetragenen moralischen Forderungen höhlt Deutschland seit Jahren seine eigene Verteidigungsfähigkeit aus, trägt nicht dazu bei, daß die deutschen Streitkräfte als ein militärisch ernstzunehmender Faktor wahrgenommen werden. 

Wir sind ein Land, das weder willens noch fähig ist, massenhafte illegale Einwanderung zu unterbinden. Das hilflos vor hybrider Kriegsführung steht, wenn ein Regime wie das weißrussische – zweifellos von Putin ermuntert – darangeht, Zehntausende Migranten in Marsch zu setzen und das sich auf jämmerliche „Flüchtlingsdeals“ oder die Pflichterfüllung polnischer Grenzschützer verlassen muß. Ein Land, das obendrein nicht in der Lage ist, seine Energieversorgung zu sichern, hat im Grunde beschlossen, als politischer Faktor auszuscheiden. 

Der gleichzeitige Ausstieg aus Kernenergie und Kohleverstromung läßt nicht nur Energiepreise explodierten, er lädt aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit von russischem Erdgas Moskau regelrecht zur Erpressung ein! Der Putin-Vertraute, Ex-Präsident Dimitri Medwedew legte den Finger in die Wunde, als er den als Sanktion verkündeten Stopp der Ostsee-Pipeline Nordstream 2 sarkastisch kommentierte. „Na dann, willkommen in einer neuen Welt, in der die Europäer bald 2.000 Euro für 1.000 Kubikmeter Gas bezahlen werden.“

Aber vielleicht, nur vielleicht, ist der Vorstoß Putins jenes Signal, das nötig war, eine Nation aus jenem Traumland zurückzuholen, in dem man glauben konnte, das könnte eine Welt ohne Macht und ohne Geschichte und ohne die Härten des Daseins geben.