© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Martenstein wirft hin
Fehl am Platz
Thorsten Hinz

Es kommt selten vor, daß eine Zeitungs-Personalie außerhalb des Hauses Beachtung findet. Die meisten Journalisten sind eben bloß austauschbare Dienstleister. Harald Martenstein ist eine Ausnahme. Einer, der eine individuelle Handschrift besitzt und ohne Peinlichkeit sogar über toxische Männlichkeit und queere Sexroboter parlieren kann. Seine wöchentlichen Glossen erschienen bisher im Berliner Tagesspiegel und im Zeit-Magazin.

Nun hat der 68jährige seine Mitarbeit beim Tagesspiegel aufgekündigt, weil einer seiner Texte aus dem Archiv gelöscht wurde. Er handelte vom Judenstern, den Gegner der Corona-Politik sich anheften. Martenstein findet das anmaßend, verharmlosend und für die Überlebenden schwer erträglich. „Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden.“ Worin besagte Anmaßung liegt. Aber: „Von denen, die das ‘antisemitisch’ nennen, würden wahrscheinlich viele, ohne mit der Wimper zu zucken, Trump mit Hitler und die AfD mit den Nazis vergleichen. Der Widerspruch in ihrem Verhalten fällt ihnen nicht auf.“  

Andere, die ähnlich denken wie Martenstein, müssen weiter ihre Runden in der Strafkolonie drehen.

Dieser Widerspruch ist das Betriebsgeheimnis und das Wirkungsprinzip der Medien. Daß Martenstein sie auf den Punkt gebracht hat, darin liegt der wirkliche Skandal. Weil die Chefetage das nicht aussprechen kann, geriert sie sich als Anstandsdame und moniert, „nicht alles, was rechtlich betrachtet gesagt werden darf, ist dem Ton des Tagesspiegels angemessen“.

Ach ja, der Ton des Tagesspiegels, der „Hauptstadt-Zeitung“ sein will: In den 1990er Jahren liberal, meist schläfrig-langweilig, aber grundsolide. Heute ist er scharf, schneidend, missionarisch aufgeladen. 

Der Zusammenhang zwischen dem Ton- und Generationenwechsel ist evident. Neue Mitarbeiter vollziehen ihre berufliche Initiation im Kampf gegen Rechts und erschnüffeln hinter jedem Straßenbaum Nazis, Rechtsextremisten, heimliche AfDler. Ihre Texte atmen die verschwitzte Genugtuung, die auch Heinrich Manns „Professor Unrat“ empfand. Dem war, wenn er die Schüler ihrer harmlosen Späße wegen wegsperrte, „zumute wie dem Selbstherrscher, der wieder einmal einen Haufen Umstürzler in die Strafkolonie versendet“.

In diesem Milieu wurde Martenstein, der 2014 geschrieben hatte: „Ich war in der DKP. Wie politischer Irrtum sich anfühlt, weiß ich also recht gut“, zunehmend zum Fremdkörper. „Wo man glaubt, nur man selbst sei im Besitz der Wahrheit, bin ich fehl am Platz“, heißt es in seinem öffentlichen Kündigungsschreiben. Seine Prominenz macht es ihm möglich, die nötige Konsequenz zu ziehen. Andere, die ähnlich denken, müssen weiter ihre Runden drehen. Wie in der Strafkolonie.