© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Hoffnung auf bessere Zeiten
Rußland-Ukraine-Konflikt: Putin läßt erstmals offiziell russische Truppen in das umkämpfte Gebiet im Donbass einrücken. Doch bisher bleiben sie dort unentdeckt. Eine Reportage
Luca Steinmann

Es ist Nacht, als die eisige Stille in Donezk plötzlich von Explosionsgeräuschen und Lichtern von Feuerwerkskörpern unterbrochen wird. Rußlands Präsident Wladimir Putin hat soeben die Unabhängikeit der beiden separatistischen Republiken des Donbass, Donezk und Lugansk, anerkannt. Die prorussischen Aktivsten feiern. Etwa dreißig Personen versammeln sich auf dem Lenin-Platz im Stadtzentrum und böllern. Einige schwenken russische Fahnen, anderen fahren hupend vorbei und singen die Hymne der Roten Armee. Doch schon innerhalb einer halben Stunde kehrt Ruhe in die Stadt ein.

Nur Alexandr Kofman, der ehemalige Außenminister der Donezker Republik, bleibt auf dem Platz. „Heute abend feiern wir den Sieg nach acht Jahren Krieg gegen die ukrainischen Nazis. Aber die Kämpfe werden weitergehen. Wir werden auch dafür kämpfen, Sloviansk und Mariupol vom Nazismus zu befreien. Heute Abend findet das Halbfinale statt. Das Finale wird sein, wenn wir die ganze Ukraine von den Nazis befreien.“ Er wolle also bis nach Kiew marschieren? „Das brauchen wir nicht. Die Ukraine ist voll von Bürgern, die mit Rußland befreundet sind. Heute zeigen wir ihnen, daß ein Sieg möglich ist. Es ist unser Stalingrad. Aber wollen sie unabhängig oder Teil Rußlands sein? Der Donbass ist Rußland. Die ganze Welt ist Rußland.“

Am Tag darauf, Dienstag, herrscht eine Atmosphäre der gespannten Erwartung, in der sich auch Gefühle von Hoffnung und Angst mischen. Vor allem aber Ungewißheit über die Zukunft. In der Nacht kündigte der Kreml an, Truppen zu schicken. Die Bürger in der Stadt erwarten jeden Augenblick russische Panzer. Sie kommen jedoch nicht. Die zahlreichen Internetvideos, die die angebliche Ankunft von Moskaus Militärfahrzeugen zeigen, werden von der Realität widerlegt. Die einzige Veränderung im Vergleich zu den vorangegangenen Tagen sind die – immer noch wenigen, aber lautstarken – pro-russischen Militanten, die weiter feiern. Es sind aber nur ein paar Dutzend Menschen. Die meisten Einwohner bleiben diskret und gehen ihrem Alltag nach. Auf dem Markt vor dem Hauptbahnhof gehen Frauen und Mädchen einkaufen, während in der Ferne gelegentlich Explosionen von den Schlachtfeldern am Rande der Stadt zu hören sind. Die pro-russischen Milizen sind zwar in Donezk präsent, aber die umliegenden Dörfer im Norden stehen unter der Kontrolle der ukrainischen Armee.

Frauen verabschieden ihre Männer, die eingezogen werden

„Im Vergleich zu gestern hat sich für mich wenig geändert“, sagt Tatjana, die gegenüber dem Bahnhof einen Obstladen betreibt. „In den vergangenen Stunden hat der Beschuß etwas nachgelassen, aber wir befürchten, daß er bald wieder einsetzt. Das geht schon seit acht Jahren so. Aber ich will Hoffnung haben.“ Mehr als die Bomben scheint Tatjana die Wirtschaftskrise zu beunruhigen. „Seit Beginn des Evakuierungsplans sind viele Menschen nach Rußland geflüchtet, und ich habe viele Kunden verloren.“ Damit meint sie die in der vergangenen Woche begonnene Flucht vieler Bürger in die russische Region Rostow am Don, die von den dortigen Behörden im Hinblick auf eine mögliche Eskalation des Krieges verstärkt wurde. Auf die Frage, was sie von der möglichen Ankunft russischer Truppen hält, antwortet die Frau: „Ich möchte nur, daß eine Lösung gefunden wird, damit der Krieg endet und die Isolation, in der wir seit Jahren leben, durchbrochen wird. Wir hoffen, daß wir zumindest durch die Zugehörigkeit zu Rußland mehr Möglichkeiten haben werden.“

Alle, die an diesem Tag mit mir sprechen, gehen davon aus, daß die Ereignisse in der vergangenen Nacht den Beitritt der selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk zur Russischen Föderation markieren. Viele sagen, sie seien bereit, wenn nicht sogar glücklich, dies zu akzeptieren, solange es nur zu einer besseren Zukunft führt. „Meine Tochter ist sieben Jahre alt und hat in ihrem Leben nur Krieg erlebt“, sagt Veronica, eine junge Mutter, die über den Markt geht. „Ich versuche, sie einigermaßen zu erziehen, indem ich ihr von einer anderen Welt erzähle als der, in der wir hier leben. Wir hoffen, daß die internationale Diplomatie eine Lösung finden wird. Ich möchte, daß ihre Zukunft hier liegt.“

Doch die Spannungen lassen nicht nach. Seit einigen Tagen fordern die Behörden in Donezk Männer im Alter zwischen 18 und 55 Jahren auf, sich in einem der 14 eingerichteten Rekrutierungszentren zu melden. Am Montag morgen waren sie voll. Männer jedes Alters, die Taschen oder Koffer tragen, stellten sich in einer Reihe auf, wurden von den Soldaten registriert und setzten sich dann hin, um auf den Appell zu warten: Wenn eine Gruppe gerufen wird, steht sie auf, geht auf die Straße und steigt in Militärfahrzeuge ein, mit denen sie wegfahren.

Vor der Abreise kommt es zu emotionalen Momenten: Einige der Männer verabschieden sich von ihren Frauen. Einige lächeln, andere weinen. „Ich bin hier, um mich von meinem Mann Vitaly zu verabschieden“, sagt die 35 Jahre alte Olga, als sie ihn gehen sieht. „Mein erster Mann starb 2014 im Kampf. Jetzt weiß ich nicht, ob und wann ich Vitaly wiedersehen werde. Sie haben uns nicht gesagt, wohin sie ihn schicken und wie lange sie ihn behalten werden. Selbst wenn die Russen kommen, scheint der Frieden noch weit entfernt.“





Zitate aus Wladimir Putins Rede vom 21. Februar 2022

Ich möchte nochmals betonen, daß die Ukraine für uns nicht nur ein Nachbarland ist. Sie ist ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums. Es sind unsere Kameraden, die uns am Herzen liegen – nicht nur Kollegen, Freunde und Menschen, die einst gemeinsam gedient haben, sondern auch Verwandte, Menschen, die durch Blut, durch Familienbande verbunden sind.

Sowohl vor als auch nach dem Großen Vaterländischen Krieg gliederte Stalin einige Gebiete in die UdSSR ein und übertrug sie der Ukraine, die zuvor zu Polen, Rumänien und Ungarn gehörten. Dabei gab er Polen einen Teil des traditionell deutschen Landes als Entschädigung, und 1954 nahm Chruschtschow Rußland aus irgendeinem Grund die Krim weg und gab sie ebenfalls der Ukraine. Auf diese Weise ist das Gebiet der heutigen Ukraine entstanden.

Die moderne Ukraine wurde vollständig von Rußland geschaffen, genauer gesagt vom bolschewistischen, kommunistischen Rußland. Dieser Prozeß begann praktisch unmittelbar nach der Revolution von 1917.

Die sowjetische Ukraine ist das Ergebnis der Politik der Bolschewiki und kann zu Recht als „Wladimir Lenins Ukraine“ bezeichnet werden. Er war ihr Schöpfer und Architekt.

Eine stabile Staatlichkeit hat sich in der Ukraine nie herausgebildet; ihre Wahl- und sonstigen politischen Verfahren dienen lediglich als Deckmantel, als Projektionsfläche für die Umverteilung von Macht und Eigentum zwischen verschiedenen oligarchischen Clans.





Die Konfliktlinie in der Ukraine

Russische Truppen stehen massiert nicht nur an den Grenzen der Ukraine, sondern auch im von Separatisten kontrollierten Gebiet. Die selbsternannten Volksrepubliken beanspruchen je den ganzen Oblast. In beiden Verwaltungseinheiten gibt es russische Mehrheiten.

Foto: Russische Panzer, hier auf Eisenbahnwaggons, wurden in großer Zahl an die Grenze zur Ukraine gebracht: Bis zu 150.000 Soldaten soll Rußland an der Grenze zusammengezogen haben