© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Zwei Schritt vor, einen zurück
Weltweite Reaktionen: Putin läßt die separatistischen Republiken in der Ukraine als unabhängig anerkennen
Jörg Sobolewski

Mit einer Mischung aus Spannung und Furcht hatte man in Hauptstädten und Regierungszentralen weltweit auf die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin gewartet. Nachdem bereits zuvor Gerüchte über eine Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine die Runde machten, ließ der Kreml in den frühen Abendstunden des 21. Februar die Bombe platzen. Nach der knapp ein stündigen Rede des russischen Machthabers, in der er nicht nur den Westen und die Regierung in Kiew, sondern auch die Politik der untergegangenen Sowjetunion kritisierte, verkündete Moskau, man werde die sogenannten „Volksrepubliken von Lugansk und Donezk“ als unabhängige Staaten anerkennen und militärisch für „den Frieden in den Gebieten“ sorgen. Eine Ankündigung, die in den abtrünnigen Regionen der Ukraine für Jubel sorgte, welcher kurz darauf auch der Speerspitze der russischen Streitkräfte zuteil wurde, die in langen Kolonnen in das Gebiet einrückte.

Tausend Kilometer westlich, in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wurde die Ankündigung aus Moskau als Prätext eines vollständigen Einmarsches gedeutet: „Dies ist unser Land (...) wir geben niemandem etwas“, gab sich Präsident Wolodymyr Selenskyj kämpferisch. „Wir haben keine Angst“, beschwor er die Ukrainer und warb um „weitreichende Sanktionen“ gegen die Russische Föderation in einem Telefonat mit US-Präsident Biden. Der kündigte eine „schnelle und entschiedene“ Reaktion der Vereinigten Staaten gemeinsam mit ihren Verbündeten an. Darunter zählen auch weitreichende Wirtschaftsbeschränkungen, sowohl gegen die Regierung in Moskau als auch gegen jede Art des Wirtschaftslebens in den beiden selbsternannten Volksrepubliken. Auch diese werden „mit den Partnern in Europa“ abgesprochen werden. 

China, Indien und Iran rufen beide Seiten an Verhandlungstisch 

Als Adressaten dieser Aussage können nicht nur Moskau und Kiew verstanden werden, sondern auch die Bundesregierung in Berlin. Die hatte sich zwar sofort nach Bekanntwerden der veränderten russischen Haltung klar positioniert. So sprach etwa Bundesfinanzminister Christian Lindner von einem „Zusammenrücken von Nato und EU als Wertegemeinschaften“ in Solidarität mit der Ukraine, eine Entscheidung über die Zukunft von Nord Stream 2 stand aber am selben Abend noch aus. Erst am nächsten Vormittag verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz das vorläufige Aus für die Gaspipeline. Das Genehmigungsverfahren sei angesichts des russischen Vorgehens in der Ukraine gestoppt worden, Putin verstoße massiv „gegen das Völkerrecht“, so der Sozialdemokrat. Auch sein Amtskollege in Paris verurteilte das russische Vorgehen scharf, Putin „untergrabe die ukrainische Souveränität“. Die französische Nachrichtenagentur AFP zitierte einen unbekannten leitenden Mitarbeiter des Präsidenten, Putin habe eine „paranoide Rede gehalten“ und überdies „Zusagen an den französischen Staatschef nicht eingehalten“.

Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warf Putin eine Verletzung getroffener Absprachen vor, konkret des Minsker Abkommens. Die EU und ihre Partner würden „fest, zielstrebig und gemeinsam in Solidarität mit der Ukraine“ reagieren. Der Premierminister des Vereinigten Königreichs, Boris Johnson, sprach ebenfalls von „Solidarität mit der Ukraine“, eine erste „Salve und Sanktionen“ seien bereits auf dem Weg. Man werde Anfragen der Ukraine zu weitergehender Militärhilfe prüfen. 

Ins gleiche Horn blies auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen Regierung zuletzt unter anderem bewaffnete Drohnen an die ukrainischen Streitkräfte geliefert hatte (siehe Seite 8). Er bezeichnete das russische Vorgehen als „inakzeptabel“. Man rufe die beteiligten Parteien dazu auf, mit gesundem Menschenverstand zu reagieren. 

Die Volksrepublik China, einer der wichtigsten Verbündeten Rußlands, warb für die Rückkehr an den Verhandlungstisch: In dieser Situation sollten alle Beteiligten davon absehen „weiter Öl ins Feuer zu gießen“. Ebenso forderte die Regierung in Neu-Delhi beide Seiten zur Deeskalation auf und warb um „Zurückhaltung“ und eine „langfristige Lösung des Konflikts, die die berechtigten Sicherheitsinteressen aller Beteiligten in Betracht“ ziehe. Auch der Iran warb dafür, die Spannungen von beiden Seiten her zu entschärfen. „Leider haben die Einmischung der Nato und die Provokationen der Vereinigten Staaten die Lage in der Region noch komplizierter gemacht“, sagte der Sprecher des Außenministeriums.

Ob es nun zu größeren Kampfhandlungen kommt oder nicht, hängt von vielen weiteren Entscheidungen ab. Bisher haben sich russische Soldaten nicht an der Frontlinie von Ukrainern und Separatisten sehen lassen, berichtet die Associated Press. Unklar ist auch, in welchen Grenzen Rußland die Republiken anerkennt. In den Grenzen, in denen sie ausgerufen wurden, als den Grenzen des ukrainischen Oblast? Oder in den Grenzen, die die Milizen kontrollieren? Putin-Sprecher Dimitri Peskow erklärte auf Nachfrage von Journalisten: Die Republiken bestünden „innerhalb der Grenzen, in denen sie ausgerufen wurden und in denen sie existieren“. Das Spiel des russischen Präsidenten mit der Aufmerksamkeit und den Nerven des Westens ist noch lange nicht vorbei.