© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Arm, aber gut gerüstet
Ukraine: Seit 2014 wurde die Ex-Sowjetrepublik vom Westen aufgerüstet / Doch ist sie auch ökonomisch lebensfähig?
Paul Leonhard

Die Volksrepublik China hat zum eskalierten Streit zwischen Moskau und Washington über die Osterweiterung der Nato im allgemeinen und über die Ukraine im speziellen Position bezogen. Es handele sich um einen Konflikt zwischen Rußland und der Nato, sagte der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun auf der von den USA einberufenen Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates, wobei er das westliche Militärbündnis als „Produkt des Kalten Krieges“ bezeichnete. Der Diplomat forderte nachdrücklich, die „legitimen Sicherheitsbedenken Rußlands“ anzuerkennen. Diese eindeutige Stellungnahme aus Peking überraschte selbst den russischen UN-Botschafter Wassili Nebensja, der sich kurz davor noch beschwert hatte, daß der Westen die Ukraine „mit Waffen vollpumpen“ würde, um einen Keil zwischen die beiden slawischen Brudervölker zu treiben.

Derweil geht das Säbelrasseln auf beiden Seiten weiter. Während Rußland Panzer entlang seiner Westgrenze rollen läßt und die Ukraine Volksmilizen aufbaut, gab US-Präsident Joe Biden 2.000 Soldaten den Marschbefehl nach Europa und schickte zwei nicht der Nato unterstellte US-Militärberater ins Kiewer Verteidigungsministerium, die insbesondere auch bei der „euroatlantischen Integration“ beraten sollen. Rußlands Staatspräsident Wladimir Putin dürfte das als weitere Provokation werten. Will er doch mit seinen Militärmanövern an Rußlands Westgrenze einerseits die Nato zu einer Abänderung ihrer „Politik der offenen Türen“ zumindest bezüglich der Ukraine und Georgiens zwingen.

Munition, Granatwerfer und Scharfschützengewehre

Die Ukraine gehört seit 2020 neben Schweden, Finnland und Australien zu den sogenannten Partnernationen der Nato, die ohne Mitglieder zu sein, „Mitwirkungsmöglichkeiten“ und damit den Zugang zu moderner Kriegstechnologie der inzwischen 30 Verbündeten haben. Andererseits will der Kreml die Ukraine davon abhalten, die beiden von prorussischen Milizen kontrollierten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk im Osten anzugreifen. Seit die Nato massiv Waffen und militärische Ausrüstung liefert, fürchtet Moskau, daß Kiew den Donbass-Konflikt gewaltsam lösen könnte.

Tatsächlich wird die Ukraine seit mindestens sieben Jahren von den Nato-Staaten systematisch aufgerüstet. Die russische Annexion der Krim und der Ausbruch der bewaffneten Kämpfe in der Ost­ukraine führten 2014 dazu, daß das zu den weltweit bedeutendsten Waffenexporteuren zählende Land – es hat 30 Prozent der sowjetischen Rüstungsindustrie geerbt – bereits verkaufte Waffensysteme zurückhalten und der eigenen Armee zur Verfügung stellen sowie erstmals in der Geschichte seiner Unabhängigkeit massenhaft Waffen, Munition und Ausrüstung einkaufen mußte. Seitdem importiert die Ukraine an militärischen Gütern, was sie irgendwie kriegen kann: Munition, Elektronik, Kommunikationsausrüstung, Scharfschützengewehre, Granatwerfer.

24 unbemannte Flugaufklärungssysteme sowie 360 Javelin-Panzerabwehrraketen und zwei Patrouillenboote übergaben die USA. Die früheren Warschauer-Pakt-Staaten Polen und Tschechien veräußerten gegen Dollar Selbstfahrlafetten „Gwosdika“, BMP-Schützenpanzer, gepanzerte MTLB-Mannschaftstransporter und 100 Warmate-Lenkwaffen, Bulgarien Panzerfäuste sowie Litauen und Montenegro Munition. Allein 69 Millionen Dollar kosteten die zwölf bewaffneten Aufklärungsdrohnen aus der Türkei, die sich im Syrienkrieg gegen die russische Luftabwehr bestens bewährt hatten.

Die genauen Liefermengen listet die Länderinformation „Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte“ des Bonner „International Centre of Conflict Studies“ (BICC) vom Dezember 2021 auf. All diese Waffensysteme wurden trotz Rüstungskontrollbestimmungen in ein Land geliefert, das sich nach eigenem Verständnis zumindest theoretisch im Kriegszustand mit Rußland befindet. Denn ein im Januar 2018 verabschiedetes ukrainisches Gesetz bezeichnet die Oblaste Donezk und Lugansk als „von Rußland besetztes Gebiet“. Bereits im Januar 2016 war mit den USA die Aktivierung der militärischen Zusammenarbeit offiziell vereinbart worden, da waren bereits seit zwei Jahren US-Militärberater im Land. Sie sollten Streitkräfte und Polizei insbesondere im Umgang mit bewaffneten Aufständischen schulen. Kanada lieferte Ausrüstung im Wert von 524 Millionen Dollar und unterzeichnete im April 2017 ebenfalls eine „Verteidigungskooperation“.

Die arme Ukraine zählt zu den am stärksten militarisierten Staaten

Die Militärausgaben der Ukraine kletterten –  die Geschenke der Nato-Staaten nicht eingerechnet – von vier Milliarden Dollar 2016 auf rund sechs Milliarden 2020, was etwa neun Prozent der Staatsausgaben entspricht. Gleichzeitig gilt die Ukraine aber noch immer als Ursprungs- und Transitland vieler illegaler Waffentransfers, darunter an bewaffnete Akteure in unterschiedlichen Konflikten in Afrika, Osteuropa, Mexiko und dem Nahen Osten. Allein durch den legalen Waffenverkauf erzielte die Ukraine 2019 Einnahmen von knapp 350 Millionen Dollar, vor allem durch Geschäfte mit Indien, Saudi-Arabien und der Türkei. Exportschlager waren die Panzerabwehrsysteme „Corsar“ und „Skif“ sowie Hochpräzisionsmunition. 2012, zu Zeiten des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, waren es allerdings noch 1,5 Milliarden Dollar gewesen.

Aktuell tüfteln ukrainische Waffenschmieden an Raketensystemen für saudi-arabische und äthiopische Investoren. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde 2021 eine Kooperation zur Entwicklung von Raketensystemen, Flugzeugtriebwerken und Drohnen vereinbart. Die ukrainische Armee selbst – 2014 wurde die 2013 abgeschaffte Wehrpflicht wieder eingeführt – verfügt laut BICC über 209.000 aktive Soldaten (2014 waren es 121.000), 900.000 Reservisten sowie 60.000 Nationalgardisten und 42.000 Grenzschützer mit rund 2.200 schweren Kampfpanzern, davon mehr als 900 relativ moderne T-80 oder T-84. Die Bundeswehr hat hingegen nur noch 266 Leopard-2.

Der so mit ausgemusterten wie modernen Waffen ausgestatteten Armee wird inzwischen zugetraut, einen Angreifer zwar nicht dauerhaft zu schlagen, aber derartige Verluste beibringen zu können, daß dieser lieber auf Verhandlungen setzt, statt einen zu hohen Blutzoll gegenüber der eigenen Bevölkerung erklären zu müssen. „Die Steigerung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit würde nicht nur die Verluste des Landes mindern, sondern auch seine Entschlossenheit stärken und ein klares Signal an Rußland senden“, so Dumitru Minzarari und Susan Stewart in ihrer Studie „Die Logik von Verteidigungshilfe für die Ukraine“ (SWP-Aktuell 2021/A 54) im vergangenen Sommer. Eine Invasion sollte für Rußland möglichst teuer werden.

Allerdings ist der Preis dafür hoch. Die Ukraine hat ohne die Krim noch 41,2 Millionen Einwohner und ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von nur 4.384 Dollar – das ist das Niveau von Jordanien. Weißrußland kommt immerhin auf 7.032 Dollar, Rußland auf 11.273 Dollar und Polen auf 17.318 Dollar. Im Ranking des weltweiten Militarisierungsindex des BICC belegte die Ukraine aber 2020 Platz 16 von 151 Staaten (2012: Platz 47).

Der wichtige russische Absatzmarkt ist seit 2014 verschlossen. Damit in Kiew das Geld nicht ausgeht, will die EU-Kommission die Ukraine mit einem langfristigen Darlehen „zu äußerst günstigen Bedingungen“ unterstützen. Die 1,2 Milliarden Euro sollen, so Kommissionschefin Ursula von der Leyen, den Finanzierungsbedarf der Ukraine infolge der wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, mit denen das Land konfrontiert sei, decken und sowohl den Staatsaufbau als auch die Resilienz des Landes stärken.

Bonn International Centre for Conflict Studies: www.bicc.de

 Kommentar Seite 2

Foto: Ukrainischer Präsident Volodymyr Zelensky (2.v.r.) besucht die Truppe: Säbelrasseln